Was würde mein Ehemann, mit dem ich auch nach unserer Trennung eine gute Freundschaft pflegte, über den Krieg in der Ukraine, Putins Politik und die aktuelle Lage in Russland sagen?
Als waschechter Russe hatte er eine viel engere Verbindung mit den Menschen dort als ich, die sich bisweilen in dem Land fremd und fehl am Platz fühlte. Es war seine Heimat, in der er tiefe
Wurzeln hatte, in dem seine Verwandten lebten, in dem seine Eltern, Großeltern und der einzige Bruder beerdigt sind.
Eins weiß ich – in Deutschland fühlte Eugen sich wohl und angenommen. Hier fand er sein Zuhause und schloss neue Freundschaften. Auch wenn er die Sprache nicht perfekt beherrschte, scheute er es
nie, auf Deutsch zu sprechen und über verschiedene, manchmal schwierige, Themen zu disputieren. Schon wenige Monate nach unserer Ankunft hatte er einen Job gefunden, zwar nicht in seinem Beruf
als Lehrer, sondern als einfacher Fabrikarbeiter, aber die Arbeit befriedigte ihn und gab ihm das Gefühl, ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein.
Wie wir uns damals, vor vielen Jahren, kennengelernt haben, ist eine längere Geschichte. Gern möchte ich dazu einen kleinen Auszug aus meinem Buch „In der sibirischen Kälte“ hier einfügen:
In der ersten Physikstunde betrat ein junger, sympathischer Mann den Raum, mit einer Aktentasche in der Hand und dem Klassenbuch unter dem Arm. Er begrüßte alle, verteilte seine Arbeitsutensilien auf dem Tisch und schenkte seine Aufmerksamkeit zunächst den neuen Schülern, unter denen auch ich war.
Das nicht, aber ich war sofort von diesem Physik- und Astronomie-Lehrer angetan – von seiner ruhigen, etwas schüchternen Art, seiner angenehmen, warmen Stimme,
seinem unverfälschten Interesse an den jungen Menschen, die vor ihm saßen. Mir entging nicht, dass alle in der Klasse ihn mochten. Mit seinen 22 Jahren gehörte er zu den jüngsten und beliebtesten
Lehrern der Schule.
Die Schüler und Kollegen nannten ihn Jewgenij Wladimirowitsch – die in Russland übliche höfliche Anrede mit Vor- und Vatersnamen. Es dauerte nicht lange, bis ich
seinem Charme restlos erlegen war. Er selbst wusste allerdings nicht, welche Anziehungskraft er für mich besaß.“
Selbstverständlich war es eine heimliche Liebe meinerseits – zueinander fanden wir erst nach dem Schulabschluss. Erst dann schrieb ich ihm einen Brief mit meinem Liebesgeständnis. Die Antwort
kam, als ich schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, und zwar auf eine ziemlich abenteuerliche Weise. Aber auch das ist wieder eine etwas längere Geschichte.
So fing meine Freundschaft mit Jewgenij Wladimirowitsch Ananitschew an (in Deutschland – Eugen Ananitschev), und es ist sicher nicht schwer zu erraten, wie sie sich entwickelt hat.
Noch ein Ausschnitt aus meinem Buch:
„[Jewgenij] war ein hervorragender Lehrer, aber auch ein Mensch, der sich alles sehr zu Herzen nahm. Das erschwerte ihm seine pädagogische
Tätigkeit. Als wir in Omsk wohnten und unsere beiden Söhne heranwuchsen, arbeitete er in einer Internatsschule für schwer erziehbare Kinder. Das, was er während dieser Zeit sah und erlebte und
trotz all seiner Herzensgüte nicht zu ändern vermochte, konnte er schlecht verkraften. Es bewog ihn schließlich, den Lehrerberuf aufzugeben.
Die letzten sieben Jahre vor unserer Ausreise arbeitete Jewgenij als Isolierer. Auch diese Arbeit verrichtete er sehr gewissenhaft, obwohl es eine
der härtesten war, besonders während der Winterzeit, und auch, weil er mit gesundheitsschädigender Glaswolle umgehen musste. Gezielten Arbeitsschutz wie heutzutage gab es damals nicht und wenn –
dann gewiss nicht in Russland.
Auf das westliche Deutschland war Eugen sehr gespannt. Er, der lange Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war – und irgendwann aus
Gewissensgründen austrat – wollte den sogenannten Kapitalismus mit eigenen Augen sehen, am eigenen Leib erfahren.
In Deutschland verspürte Eugen anfangs eine enorme Wut in sich, die sich gegen seine Heimat, genauer gesagt, gegen deren Machthaber richtete. Trotz der ihm inzwischen hinreichend bekannten Gräueltaten, die seit 1917 in Russland verübt worden waren, fehlte ihm jede korrekte Vorstellung über das öffentliche Leben und politische Geschehen jenseits der Landesgrenzen. Nun war er sehr beeindruckt, wie hoch im kapitalistischen Land in der Regel ein Menschenleben und dessen Wohl geschätzt und geachtet wurde. Der Vergleich mit den Erfahrungen seines Lebens im Sozialismus führte ihn zu neuen, wichtigen Erkenntnissen, die er verarbeiten musste. Eugen begann, seine Gedanken aufzuschreiben. Er machte es sich zur Lebensaufgabe, die Dinge, die ihn bewegten und nicht zur Ruhe kommen ließen, in einem Manuskript festzuhalten. Es wurden über 500 DIN-A4-Seiten in russischer Sprache und es wären sicher noch mehr geworden, wenn der Tod ihn nicht mitten aus dem Leben gerissen hätte.“
Das Manuskript ist ein komplexes Schriftwerk und obwohl ich die Worddatei besitze, muss ich zugeben, dass ich den Gedankengängen nicht immer folgen kann, denn Eugen betrachtete die Welt aus einer eigenartigen, oft nur ihm verständlichen Perspektive. Doch einige der Themen, mit denen er sich beschäftigte, sprechen uns alle an:
- Die Bestimmung der Menschheit;
- Wofür leben wir und warum ist das Leben lebenswert;
- Wofür sollten wir unsere Energien einsetzen und auf welche Ziele uns konzentrieren? Was hingegen ist unwichtig?
- Was kann der Sinn persönlicher Existenz sein?
Aber am wichtigsten war für ihn, herauszufinden: Wie fördert man das Gute im Menschen, sodass es das Böse überwiegt?
Ich merke schon – es erübrigt sich, die Eingangsfrage zu beantworten, denn die Lösung liegt auf der Hand und ist glasklar. Ich bin auch überzeugt, er wäre entsetzt darüber, dass einige seiner
Verwandten in Russland zu Putin halten und ihn bejubeln. Würde er mit ihnen diskutieren und versuchen zu erklären, was wirklich geschieht, würde er ihnen die Augen öffnen wollen? Ja, das würde er
tun! Ich bezweifle jedoch, dass er damit Erfolg hätte. Sie würden ihm, wie auch mir, einreden wollen, er verstehe alles falsch und sogar – er sei ein Verräter seines Landes, das ihm ein
glückliches Leben ermöglichte, ein Verräter seines Vaters, der einst dieses Land gegen den Faschismus verteidigte.
Stimmt, mein Schwiegervater war Veteran des Vaterländischen Krieges. Allerdings hatte er über seine Erlebnisse kaum gesprochen; er trank viel und starb infolge seines Alkoholismus, als er erst 53
Jahre alt war.
Einmal gestand er aber seinem Sohn etwas Abscheuliches, nämlich wie er und seine Kameraden sich auf dem Esstisch in einem von der sowjetischen Armee besetzten Haus in Deutschland erleichtert
hatten (gelinde ausgedrückt). Ich war nicht dabei, als er ihm das gebeichtet hat und kann nicht sagen, ob er über diese Tat stolz war oder vielleicht doch sie im Nachhinein bereute. Aber Eugen
schämte sich sehr für seinen Vater.
Meine Ehe mit Eugen hielt nicht für immer, dagegen aber bis zuletzt unsere enge Verbindung. Auch nach der Trennung konnte ich mit ihm über alles reden. Wie kein anderer, schaffte er es stets, mir
mit seinen Worten Trost zu spenden und mich aufzubauen. Er war ein aufrichtiger, kluger, einfühlsamer Mann, der immer da war, wenn man ihn brauchte. Sein Lebensmotto „Denke zuerst an den
Mitmenschen, danach – an dich selbst“ war nicht bloß eine leere Floskel. Nach diesem Prinzip hat er gelebt.
War er vielleicht zu gut für diese Welt und die Zeit einfach noch nicht reif für ihn? Musste er uns deshalb so früh verlassen? In einem bin ich mir sicher – er hätte noch viel Positives im Leben
bewirken können.
Bei diesen Gedanken füllt sich mein Herz mit Wehmut. Er fehlt mir – dieser wunderbare Mensch. Er fehlt uns allen – allen, die ihn einmal kennen und schätzen gelernt haben.
(Mehr über Eugen Ananitschev im Buch „In der sibirischen Kälte“).
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