20. Waren Sie als Kind oft krank?
Als Kind war ich kaum krank. Ich hatte zwar ab und zu Ohren- oder Halsschmerzen, aber sonst, was den Körper angeht, nichts Gravierendes. Zum Glück hatte ich auch keine Zahnprobleme und blieb somit von den damaligen grausigen Behandlungen verschont.
Die Psyche ist eine andere Geschichte. Erst im erwachsenen Alter ist mir klar geworden, dass ich als Kind depressiv war. Wenn man mich gefragt hätte, was mir fehlt, hätte ich das damals nicht sagen, nicht beschreiben können. Es war wie ein unangenehmer Beigeschmack am Dasein, wie ein Ziehen und Nagen an der Seele … Wie ein Schatten in der Ferne, über dem grünen Waldstreifen; ich spürte ihn, wenn ich meinen Blick an den Horizont richtete. Etwas Dunkles schaute mir entgegen und mein Herz zog sich zusammen.
Nein, man hatte mir höchstwahrscheinlich die Depression nicht angemerkt, dafür war sie doch nicht stark genug ausgeprägt; ich war bloß still, schweigsam und schüchtern. Natürlich ahnte ich selbst
auch nicht, dass meine Stimmung krankhaft war – ich dachte, alle Kinder müssen sich so fühlen. Aber ich stellte mir oft die Frage: warum leben wir? … und fand keine Antwort darauf.
Im Vorschulalter hatte ich manchmal seltsame Anfälle. Gewöhnlich spürte ich schon am Abend, dass es wieder soweit war – ich fror und zitterte am ganzen Körper. Nachts hatte ich dann
Halluzinationen.
Eine dieser Nächte ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben.
Ich sah lauter Kühe um mich herum, genauer gesagt, deren Miniaturausgaben. Sie waren überall – auf dem Schrank, dem alten Harmonium, auf meiner Decke; sie muhten und schauten mich mit ihren
großen, traurigen Augen an. Ich schrie und weinte und bat Mama, die Tiere wegzujagen. Sie saß an meinem Bett, streichelte mir über den Kopf, versicherte mir immer wieder, dass keine Kühe im
Zimmer seien, dass ich bloß träume. Meine Sinneswahrnehmungen waren total gestört. Die gegenüberliegende Wand rückte an mich heran, presste sich an mein Gesicht, verschmolz fast mit ihm, während
ich Mama ganz weit in der Ferne sah. Es war qualvoll.
Im Morgengrauen lösten sich die Kühe auf und nach dem Sonnenaufgang ging es mir wieder gut, so als ob gar nichts wäre.
Diese Anfälle verschwanden irgendwann gänzlich. Nur die Depression blieb, wartete ab, bis sie sich mir (nach der Geburt meines ersten Kindes) in voller Größe zeigen konnte. Später schlug sie zu,
wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam.
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