Es war nicht nur der Sprung in eine fremde Welt, es war das Eintauchen in eine andere Atmosphäre … damals, vor 28 Jahren. In eine wärmere Atmosphäre, sowohl im wahrsten als auch übertragenen Sinne. Schon von dem Moment an, als wir das Areal der Lufthansa im Moskauer Flughafen Domodedowo betraten, spürte ich sie – die Veränderung. Im Flugzeug die Crew – lächelnd, einladend, hilfsbereit. Am Flughafen Frankfurt am Main – alles hell, ruhig, ohne Hektik. Die Gesichter der ersten Deutschen, denen ich begegnete, so ganz anders – entspannt, freundlich. Frei.
Nein, ich will nicht behaupten, dass alle Deutschen nur entspannt und freundlich sind und die Russen – gestresst und grimmig. Später werde ich auch das Gegenteil sehen und kennenlernen, dennoch meistens auf den ersten Blick erkennen können, wen ich vor mir habe – einen ‚waschechten‘ Deutschen oder jemand, der aus Russland kommt. Irgendetwas unterscheidet sie. Der Blick, der Gesichtsausdruck, die Bewegungen, das Verhalten ... Oder ist es die Unsicherheit, die immer wieder durchkommt, das ‚Auf-der-Lauer-sein‘, ein Schatten der alten Angst? Ja, Russland färbt ab, sehr sogar, für immer und ewig sogar.
Wie steht es denn um mich selbst? Hat Russland auch bei mir seine Spuren hinterlassen?
In einer Hinsicht gewiss – meinen Akzent werde ich im Leben nicht mehr los. Ansonsten ‚identifizieren‘ mich meine Landsleute nur selten und sind überrascht, wenn ich (zum Beispiel bei ihrer Anmeldung in der Bücherei) plötzlich meine Sprachkenntnisse verrate. Und meine FreundInnen sagen: „Du bist ganz anders“. Nun, ‚anders‘ bin ich ja sowieso. Aber klar – auch an mir ist das Leben im Sozialismus nicht spurlos vorbeigegangen.
Dennoch war ich von Anfang an offen für das Unbekannte, das mich im neuen Land erwartete; ich wollte alles sehen, spüren, erleben und mitmachen. Ich wollte mittendrin sein, auch wenn ich von klein auf eher schüchtern und zurückhaltend bin und es überhaupt nicht mag, im Mittelpunkt zu stehen. Die Neugier, das Interesse und das ‚Dazu-gehören-wollen‘ waren meine Triebkräfte.
In den ersten Jahren besuchten mein Mann und ich sogar die Kirche. Das muss man sich einmal vorstellen – ich und der liebe Gott! Uns waren jedoch in erster Linie die Menschen wichtig, die uns auch sehr herzlich empfingen. Meine Kirchenzeit war allerdings nicht von langer Dauer. Irgendwann bekam ich das Gefühl, am falschen Ort und vor allem, nicht ehrlich zu sein, denn an Gott glaubte ich nach wie vor nicht. Als ich dann in einer Phase des Selbstzweifels einer Frau, mit der wir uns angefreundet hatten, mein ‚Anderssein‘ anvertraute, und sie sich in dem Sinne äußerte, dass Gott so etwas gar nicht gutheißen kann, da war es mit meiner ‚Frömmigkeit‘ endgültig vorbei.
Wenn ich jetzt fünf Schlagwörter für meine erste Zeit in Deutschland vergeben müsste, würde ich diese wählen: Freiheit, Menschlichkeit, Herzlichkeit, Wertschätzung und … immer wieder Staunen, auch auf die Gefahr hin, ausgelacht zu werden. (Aber seid vorsichtig, denn ihr – diejenigen, die in Deutschland geboren seid – wart nie in Russland und habt nie den Alltag dort gelebt).
Bis heute noch erinnere ich mich an eine kleine Episode, die mittlerweile normal und alltäglich ist, die mir damals unglaublich vorkam.
Wir hatten in den ersten Wochen und Monaten in Hemer viel zu erledigen. Erst einmal galt es – ganz wichtig! – herauszufinden, wie das mit den öffentlichen Verkehrsmitteln funktionierte: die richtigen Fahrkarten kaufen, einsteigen, aussteigen, sich mit Fahrplänen auseinandersetzen. Dann den Wohnsitz registrieren zu lassen, Stromanbieter zu finden, einen Vertriebenen-Ausweis zu beantragen. Das Gesundheitssystem kennenzulernen, sich für einen Hausarzt und einen Zahnarzt zu entscheiden. Schule für den Jüngsten zu wählen, zu besichtigen, ihn dort anzumelden … und so weiter, und so fort. Ganz zu schweigen, dass wir noch vieles für die Einrichtung der Wohnung benötigten.
Aufregend waren auch die Geldangelegenheiten. Solange wir in den Aufnahmelagern waren, bekamen wir die Unterstützung bar ausgezahlt. Nach der Registrierung im Einwohnermeldeamt mussten wir uns jedoch um ein Bankkonto kümmern, denn ohne ging gar nichts. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass wir uns nicht lange vom Staat versorgen ließen – schon nach wenigen Monaten fand mein Mann eine Arbeitsstelle, und da blieb er auch bis zu seinem Tod im April 2005. Bei mir dauerte es etwas länger, aber dazu komme ich später.
Ein Girokonto! So etwas gab es in Russland nicht. Ebenso wie EC-Karten und Geldautomaten.
Wir wählten die Sparkasse. Die Sache war im Nu erledigt und wir verließen das Gebäude im Besitz der nagelneuen, schönen, roten Bankkärtchen.
Ein paar Tage später begegnete ich auf der Straße einem Mann, der mich freundlich anlächelte und grüßte: „Hallo, Frau Ananitschev!“. Es war der Sparkassen-Angestellte, der uns die erste, notwendige Einführung in die deutsche Finanzwelt gegeben hatte. Ich war sprachlos. Auch das gab es in Russland nicht! Die Menschen grüßten schon, aber nicht die Bankangestellten, auch wenn sie dich kannten. Einfach so – auf der Straße, im Vorbeigehen, mit einem Lächeln im Gesicht, dann noch namentlich? Ein Ding der Unmöglichkeit! In Russland gab es ungeschriebene Regeln. Hierarchien. Ja, im Kommunismus waren bei Weitem nicht alle Menschen gleich. Ich war beeindruckt, nicht zuletzt, weil der Mann auch noch meinen Namen behalten und ihn sogar richtig ausgesprochen hatte. Es fühlte sich gut an.
Das folgende Erlebnis war für mich noch außergewöhnlicher.
1996 erhielt ich überraschenderweise eine Einladung zum Gespräch vom Kulturdezernenten meines Wohnortes. Ich war ratlos, was er denn von mir wollte.
Es ergab sich eine lockere, anregende Unterredung über meine Herkunft, über das neue Leben in Deutschland, über meine Zukunftspläne. (Dazu sei gesagt – die Hoffnung, in Deutschland eine Arbeit als Bibliothekarin zu bekommen, hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon fast aufgegeben). Zum Schluss versprach der Kulturdezernent, sobald sich eine Möglichkeit in meinem Beruf ergäbe, würde er auf mich zurückkommen.
Auf meine Frage, woher er eigentlich von mir wusste, antwortete der Mann schmunzelnd: „Nun, es spricht sich herum. Ich habe schon einiges von Ihnen gehört.“
Ich hackte nicht nach, ob er Gutes oder Schlechtes über mich erfahren hatte, dass es aber meinem Ego sehr schmeichelte, versteht sich von selbst.
Der Kulturdezernent hat sein Wort gehalten. 1998 bekam ich eine befristete Aushilfsstelle in der örtlichen Bücherei, nebenbei machte ich Übersetzungen für die Städtepartnerschaft Schelkowo-Hemer (es waren zahlreiche Briefe der ehemaligen russischen Kriegsgefangenen) – eine interessante und anspruchsvolle Aufgabe. Ich erhielt ein ausgezeichnetes Arbeitszeugnis, und als dann 1999 in der Stadtbücherei Lüdenscheid gleich zwei Stellen ausgeschrieben wurden, hatte dies unter anderem dazu geführt, dass ich eine Vollzeit-Stelle bekam. Diesen Anruf Anfang Februar 2000 und die Nachricht, dass ich die Stelle besetzen könne, habe ich jetzt noch klar in Erinnerung – es war das schönste Telefongespräch meines Lebens.
Die erste Freundschaft, die ich in Deutschland geschlossen habe, besteht bis heute. Auch das ist eine schöne Geschichte und vielleicht erzähle ich sie irgendwann vollständig. Diesmal nur so viel, und damit komme ich zu dem Begriff, der in der Überschrift enthalten ist, zu den Umarmungen.
Ich war ziemlich verwundert, als die neu gewonnene Freundin mich zum ersten Mal, zusätzlich zu dem üblichen Tschüss, umarmte … Sie merkte meine Verwirrung und lachte: „Das machen eben Freunde so, wenn sie sich treffen oder verabschieden.“ Das Problem war nur – ich kannte so eine nette Geste nicht. In meiner alten Heimat umarmten sich Menschen nicht einfach so, dazu musste es schon einen wichtigen Anlass geben. Und in meinem Elternhaus waren Umarmungen … sagen wir mal so – nicht populär. Auch nach langer Abwesenheit nicht, auch an Weihnachten oder bei sonstigen Feierlichkeiten nicht. Es war in unserer Familie nicht üblich, Herzlichkeiten untereinander auszutauschen, so wie es nicht üblich war, zum Geburtstag zu gratulieren. Wie ich schon in meinem Buch geschrieben habe: „Wir sind in kühler Atmosphäre erzogen worden und in sibirischer Kälte aufgewachsen.“
Die Kindheit … Dort nimmt alles seinen Anfang, dort werden die Grundsteine für den Lebensweg gelegt, Charaktereigenschaften gebildet, Ängste gepflanzt. Ängste, die oft nur schwer auszurotten sind. Der Umgang in der Familie, das Miteinander – auch das färbt ab, schafft Verhaltensweisen, die später im Leben zu einem Hindernis werden können.
Familie Schütz, nicht ganz vollständig - meine zwei ältesten Geschwister
und die kleine Erna fehlen.
Aber, verehrte Lesende, ihr merkt, worauf ich hinauswill.
Ja, ich habe viel dazugelernt, ich bin glücklich in meiner neuen Heimat, egal, wie viele persönliche Probleme ich hatte und noch habe, egal, wie stark Deutschland heute von anderen kritisiert wird. Für mich ist es das Land, in dem ich wirklich ICH sein kann, in dem ich Mensch bin.
Eines der ersten Fotos in Deutschland, Sommer 1993
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