Traurig, aber wahr

Heute beschäftigen mich Gedanken, die sich geradezu drängen, laut ausgesprochen, zumindest aufgeschrieben zu werden. Sie sind zum Schreien … Oder zum Verzweifeln? … 

 

Ja, Schreien wäre gar keine so schlechte Idee. Dennoch – ich werde es nicht tun. Auch verzweifeln werde ich nicht. Ich werde versuchen, meine Gefühle zu sortieren und sie hier in Worte zu fassen, obwohl ich kaum dafür Worte finden kann.

 

Ich habe vier Geschwister. Es waren einmal sechs, doch zwei sind inzwischen tot. Von den vieren stehen zu mir nur zwei Schwestern und nur mit einer von beiden habe ich regen Kontakt, mit Aneta. Sie ist sozusagen meine Verteidigerin, mein 'Blitzableiter' – sie wehrt alles ab, was gegen mich gerichtet ist (da ja alles ausschließlich ihr zugetragen wird; mit mir spricht keiner auch nur ein Wort). Sie argumentiert, beschwichtigt, erklärt – und sie macht es hervorragend. Natürlich bekomme ich dann von ihr einen vollständigen Bericht erstattet. Das ist auch gut so – ich will natürlich auf dem Laufenden sein.

 

Worum geht es überhaupt? Nun, das ist eine lange Geschichte  vielmehr sind es mehrere Geschichten – über mein Leben, über meine Kindheit, über vergangene Tage die ich alle in einem Buch zusammengefasst und 2016 veröffentlicht habe unter dem Titel: „In der sibirischen Kälte“. In einem Text erzähle ich auch vom Kindesmissbrauch. Wie die meisten meiner Verwandtschaft darauf reagierten, allen vorneweg meine älteste Schwester (ohne das Buch überhaupt gelesen zu haben!) – das will ich hier verdeutlichen.

 

So erzählte mir gestern Aneta am Telefon von der langen Diskussion mit der Ältesten. Ich bewundere Anetas Fähigkeit, bei solchen Auseinandersetzungen ruhig bleiben zu können, nicht auszurasten – ich hätte das nicht geschafft.

Es ging natürlich um mich (natürlich!). Wie dreist es von mir sei, ein Buch zu schreiben, in dem ich die Familie so bloßstelle, was sollen die Leute jetzt über sie denken, sie werden sie doch dafür verachten, dass sie solch einen Bruder hatte.

 

Aneta: „Keiner wird dich verachten, du bist ein eigenständiger Mensch und hast mit den Taten unseres Bruders nichts zu tun. Ja, es ist kaum zu begreifen und es ist sehr schlimm für uns alle, aber überleg doch mal, wie schlimm es für Rosa sein muss! Sie hat ein Recht darauf, es nicht zu verschweigen. Und wenn sie im Buch darüber geschrieben hat, dann musste sie das tun, dann konnte sie nicht anders. Und das Buch handelt nicht nur vom Missbrauch – es gibt darin eine einzige Geschichte, die sich direkt damit befasst. Du solltest es wirklich lesen, dann wirst du vieles verstehen und auch Rosa mit anderen Augen sehen.“

 

Nein, das werde sie nie im Leben tun, dieses Buch lesen! Es sei ohnehin alles gelogen. „Es gab gar keinen Missbrauch, nichts dergleichen. So etwas hat ihr die Psycho-Tante eingeredet, ebenso wie sie ihr eingeredet hat, lesbisch zu sein.“

 

Ich war im ersten Moment baff, sprachlos. Eingeredet? …

 

Hätte ich die Möglichkeit, hätte ich laut losgelacht und meine älteste Schwester direkt gefragt: „War es denn in der ersten oder zweiten Therapie, oder hatten die Therapeutinnen beide auf mich eingeredet? Vielleicht haben sie sich die Aufgaben sogar geteilt – eine war für den Kindesmissbrauch und die andere für die Homosexualität zuständig?“

 

Traurig, nicht wahr?

 

„Und warum hatte ich es überhaupt nötig, Therapien zu machen, weißt du das auch?“, würde ich sie ebenfalls, in ganz ernstem Ton fragen.

 

„Ach, depressiv! Von wegen! Sie war nie depressiv. Jetzt ist sie es nicht und als Kind war sie es schon gar nicht! Das hätten alle gemerkt, darüber hätte sie geklagt. Kinder können überhaupt nicht depressiv sein!“

 

Ich wäre an dieser Stelle wahrscheinlich schon zum zweiten Mal ausgerastet, aber Aneta antwortete ihr geduldig, dass Kinder sehr wohl depressiv sein können – sie solle doch mal entsprechende Fachliteratur lesen.

 

Falls die Älteste mir das persönlich gesagt hätte und ich doch nicht ausgerastet wäre, hätte ich ihr auch einiges erzählen können. Zum Beispiel, wie oft ich mich als Kind gefragt habe, warum Menschen überhaupt auf dieser Welt leben, wenn sie es doch gar nicht wollen – das Leben; ich war überzeugt – so wie ich mich fühle, so wie ich aus dieser Welt verschwinden möchte, so wollen es andere auch … Was hätten sie – meine Geschwister, meine Eltern … was hätten sie denn merken können? Was hätte ich ihnen sagen sollen?

 

Nein, ich lag auch nicht dauernd irgendwo in der Ecke und weinte vor Kummer. Ich habe weiter gemacht, bin durchs Leben gegangen, so gut und tapfer, wie ein Kind es nur tun konnte. Es gab ja (zum Glück!) Phasen, in denen die Depression weniger stark oder ganz abwesend war. Aber wenn meine kluge Schwester sagt, Kinder können nicht depressiv sein, dann können sie es nicht. Basta! Auch, wenn sie allen Grund dazu haben. Und da kommen wir wieder zum Grund, zum Auslöser.

 

Ich weiß nicht, ob folgende Worte die Härtesten von allem waren, was meine große Schwester von sich gab, oder ob viel mehr alle auf die gleiche Weise ungeheuerlich waren, aber diese will ich nicht einmal kommentieren: „Wie kann denn ein Bruder mit seiner eigenen Schwester Sex haben wollen! Und wenn er so etwas getan hat, dann ist sie selbst schuld – sie hat sich bestimmt an ihn herangemacht!“

 

Dann holte meine Schwester den letzten ‚Trumpf‘ heraus.

„Wenn er ein fünfjähriges Kind vergewaltigt hätte, dann hätte das Kind schlimme Verletzungen davongetragen – das hätte unsere Mutter mitbekommen!“

 

Da war sogar Aneta etwas verunsichert, wie sie mir am Telefon gestanden hat. Zwangsläufig musste ich ihr erklären, warum dies das schlechteste Argument von allen sei. Aber ich denke, so ausführlich brauche ich das hier nicht zu tun. Natürlich hatte mein Bruder dafür gesorgt, nicht entlarvt zu werden, und die Spuren beseitigt! Und auch wenn er das Kind nicht verletzt hatte – mindert das seine Schuld? War es dann kein Missbrauch? Und vielleicht bekam meine Mutter es tatsächlich mit, wer weiß das schon? Jedoch hätte sie es ganz sicher nicht in die Welt hinausgetragen und auch ihren anderen Kindern nicht unbedingt davon erzählt. Aber vielleicht konnte sie noch Schlimmeres verhindern? Auch das weiß keiner.

 

Zum Ende des Telefonats mit der Ältesten sagte Aneta ihr, sie solle mal nachdenken, die Welt sei voller Gewalt. Was würde sie machen, wenn so etwas Schreckliches einem ihrer Kinder oder Enkelkinder zustoßen würde?

 

Darauf antwortete Anetas Gegenüber ganz entschieden, das würde ihren Liebsten nie passieren, denn „sie sind anders!“ … Fein. Außerordentlich fein.

 

Fazit: Solange es in unserer Welt Menschen mit gleichen Einstellungen und Ansichten gibt, so lange werden Kinder immer wieder missbraucht und diese Menschen werden immer wieder wegschauen und behaupten, so etwas könne es gar nicht geben.

 

PS: Aktualisiert am 27.07.2023, denn inzwischen habe ich nur noch vier Geschwister. Aneta ist 80, lebt im Heim, verteidigt mich aber wie eh und je. Unsere älteste Schwester ist 87, doch das Alter hat sie nicht weiser gemacht, sie ist in ihrem Denken noch genauso, wie sie einmal war.

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Kommentare: 4
  • #1

    Ela (Samstag, 04 Juni 2016 14:16)

    wollen wir hoffen das Lillis Familie wirklich nie etwas passieren wird was dir passiert ist.
    Traurig aber wahr und ich hoffe das auch Lilli anfängt über den Tellerrand zu schauen- es ist nie zu spät dazu. Pelle dir ein Ei auf so eine Schwester und sei froh und dankbar das du eine liebe Schwester wie Aneta hast-
    Liebe Grüße
    Ela

  • #2

    Christel Wismans (Montag, 06 Juni 2016 00:00)

    liebe Rosa,
    es ist verdammt traurig, dass von all deinen Geschwistern nur deine Schweser Aneta dir glaubt und zu dir hält.
    Es tut bestimmt sehr weh, - aber - hak sie ab, alle, die dir nicht glauben. Alle, die dir nicht gut tun. HAK SIE AB!

    Ganz liebe Grüße,
    Christel

  • #3

    Melinas-Pollys (Freitag, 18 Oktober 2019 19:47)

    Ich kenn Dich ja erst seit kurzem.... Sonst hätte ich Dir schon viel früher gern geschrieben.
    Ich habe meine 6 Jahre älteren Schwester auch mal ansatzweise von dem Missbrauch erzählt (sie hat damals nicht zu Hause gelebt) sie wollte es nicht glauben - bis heute nicht. Ich habe es aufgegeben.... sie ist nicht zugänglich für solche Sachen. Es geht nicht in ihren Kopf hinein. Sie gehört zu den Leuten die nach dem Slogan leben "was nicht sein darf das nicht sein kann". Solche Menschen gibt es viele. Deshalb schreibe ich nur noch am Blog über solche Themen, wo selbst Betroffene es verstehen. Wenn jemand nicht betroffen ist kann er das selten nachvollziehen. Ist vergebene Liebesmüh. Die Familie wehrt das ab und distanziert sich - werfen zum Nestbeschmutzer - und die Opfer von damals werden erneut ausgegrenzt. Die wahren Familien sind sehr oft nicht die Blut-Familien, sondern die, die man sich sucht im Laufe seines Lebens. Die die einem glauben, die die einen ernstnehmen, die die einen lieben..... Hak sie ab, so wie Christel schreibt, im Grunde können sie nicht anders, das ist aber ihr Problem - ich bin froh, dass ich nicht so eng bin.

  • #4

    Rosa (Dienstag, 22 Oktober 2019 16:40)

    Liebe Melinas,
    ich danke Dir für Deine Worte. Ja, ich weiß, dass ich nicht die einzige bin ... Immer wieder werden solche Menschen ausgegrenzt - in der eigenen Familie; immer wieder wird ihnen nicht geglaubt. Das kann doch gar nicht sein! Der Bruder (der Vater / der Stiefvater) ist doch so ein liebenswerter Mensch - der tut so etwas nicht - nie im Leben! Fragt sich nur, warum sind es denn so viele, die missbraucht werden? Alles Lügner? Warum? Was habe ich davon, so eine Lüge in die Welt zu setzen?
    Traurig, sehr traurig ...