„So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen“, sagte ich zu Dagmar am zweiten Tag unseres Aufenthaltes in Bad Sooden-Allendorf.
„Ich aber auch nicht!“, antwortete sie mir. „Warum sind sie nur von hier weggegangen?“
Eine rhetorische Frage. Denn gewiss hatten sie – die Vorfahren meines Vaters und somit auch die Meine – ihre Gründe, als sie im 18. Jahrhundert der Einladung der Zarin Katharina II gefolgt waren und in die weite Ferne, in eine völlig fremde Welt auswanderten. Sie nahmen alle Strapazen der langen beschwerlichen Reise auf sich, in der Hoffnung, auf dem versprochenen Land ein neues glücklicheres Leben für sich und ihre Nachkommen aufzubauen. Sie konnten nicht ahnen, was in Russland schon bald alles passieren wird, in was für einen schrecklichen Strudel der Ereignisse ihre Enkelkinder und deren Enkelkinder geraten werden.
Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf in diesen drei Tagen und noch mehr Gefühle durch das Herz. Oft hatte ich einen dicken Kloß im Hals und musste mit den Tränen kämpfen.
Wie waren sie – meine Ur-Ur-Urgroßeltern? Welche Berufe übten sie aus? Welches dieser Häuser war ihr Zuhause? Vielleicht haben sie es sogar selbst gebaut? Nicht umsonst doch war auch mein Vater handwerklich so begabt. Was bewog sie, ihre Heimat für immer zu verlassen?
Leider weiß ich kaum etwas darüber.
Fakt ist allerdings, dass die Familie meines Urgroßvaters Philipp Schütz unter den zehn deutschen Familien war, die das Dorf, wo ich 1954 geboren wurde, gegründet hatten. Sie kamen 1908 aus dem Gebiet Taganrog und waren auf der Suche nach Ländereien, die sie dann auch in Sibirien im Gebiet Omsk erwarben und bewirtschafteten. Nach und nach wurde die Siedlung, die sie nach ihrem Heimatort in Taganrog Schönfeld nannten, immer größer und blühender. Mit Zuversicht blickten sie in die Zukunft. Mit der Zukunft, die schon bald zu ihrer Gegenwart wurde, hatte jedoch keiner dieser Menschen gerechnet …
Meinen Großvater Jakob Schütz – den Sohn von Philipp – habe ich nicht kennenlernen dürfen. Er kam ums Leben 1917 im Ersten Weltkrieg. Da war er erst 24 Jahre alt, hinterließ seine Frau Lydia (geb. Reimche) und zwei kleine Söhne; der Jüngste, ebenso mit dem Namen Jakob getauft, war mein Vater.
Heute ist Bad Sooden-Allendorf ein idyllischer Ort, ein Ort zum Verweilen, zum Innehalten und zum Bestaunen. Die vielen Fachwerkhäuser sind gut erhalten und sehen märchenhaft aus. Kein Gebäude gleicht dem anderen; fast vor jedem der Häuser steht eine Bank, auf die man sich niedersetzen kann, um sich vielleicht etwas auszuruhen oder einfach nur die Umgebung zu bewundern.
Wir werden wieder hierherkommen, dann aber bestimmt für längere Zeit, um uns alle Sehenswürdigkeiten in Ruhe anzusehen und die Museen zu besuchen. Zunächst aber steht uns im September noch eine nicht weniger aufregende Reise bevor – an einen anderen Ort, an den Ort, aus dem die Vorfahren meiner Mutter stammen. Die Stadt heißt Kirchheimbolanden und liegt in Rheinland-Pfalz. Es soll auch eine wunderschöne alte Stadt sein.
Wie wird sie auf mich wirken, welche Gefühle in mir auslösen? Mir wird jetzt schon ganz anders, wenn ich daran denke …
"Am Brunnen vor dem Tore"
„Am Brunnen vor dem Tore“ – ein von Franz Schubert 1827 komponiertes Lied wurde zum Volkslied. Der berühmte Brunnen und der Lindenbaum befinden sich in Bad Sooden-Allendorf.
Auf dem Friedhof und im Bibelgarten
Bekannte Namen konnte ich auf dem Friedhof nicht entdecken, aber alle Gräber sah ich mir auch nicht näher an – dafür waren es zu viele.
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C Stern (Dienstag, 30 August 2022 13:03)
Letzte Woche waren auch bei mir einige Ausflüge angesagt. Wie sehr diverse Ortschaften einem Herzen doch zur Freude gereichen können ... Auf eine alte, sehr gut erhaltene Stadtmauer bin ich auch gestoßen, altes Gemäuer begeistert mich ja ohnehin. Welche Energien an solchen Plätzen wohl gespeichert sind? Sie haben viel gesehen!
Ein wunderbarer Ort, dieses Bad Sooden-Allendorf. Solcherart Ambiente mag ich auch sehr gerne -
und es ist allzu verständlich, dass Du mit Blick auf Deine Wurzeln über all den schönen Ausblicken auf herrliche Plätze auch Gefühle der Wehmut vernommen hast.
Viele Fotos ebenso vom Friedhof, da frage ich mich auch oft, ob all die Verstorbenen zu Lebzeiten auch ihr Leben gelebt haben? Lange Zeit musste ich Friedhöfe meiden, jetzt kann ich sie wieder betreten, mit Blick auf die oft sehr kunstvoll arrangierten Gräber. Wenn ich einen Friedhof als Ort der Stille, des Gewahrwerdens und der Kunst annehme, dann kann ich mich dort inzwischen aufhalten und es entstehen schöne Fotos.
Rosa (Dienstag, 30 August 2022 14:50)
Lieben Dank, dass Du die virtuelle Reise zu meinen Wurzeln mitgemacht hast. Diesen schönen Ort werden wir unbedingt noch einmal besuchen.
Friedhöfe konnte ich in meiner Jugend auch nicht vertragen, sie machten mich sehr traurig. Aber dieses Gefühl habe ich jetzt nicht mehr. Ein Friedhof gehört ja gewissermaßen zum Leben :)