Dieser Brief ist an alle meine Mitmenschen gerichtet und jeder, der ihn liest, soll sich angesprochen fühlen.
Es ist an der Zeit, die Frage zu beantworten, die mir in ähnlicher Form zum wiederholten Mal gestellt wurde: „Warum veröffentlichst du im Internet Texte, die so persönlich sind?“ Die unausgesprochenen Worte, die ich dahinter spüre, sind jedoch: „Müssen es alle wissen? Das ist doch peinlich!“
Ich beginne mit einer der ersten bewussten, klaren Empfindungen, mit einer Erinnerung, die sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Vielleicht war ich vier, vielleicht fünf Jahre alt, vielleicht etwas älter.
Es ist grauer Morgen. Meine Mutter hebt mich aus dem Bett. Ich schäme mich, weil das Laken nass ist und weil ich daran schuld bin. Aber nicht die Scham wegen des Einnässens ist das Schlimmste, sondern ein anderes, unerträgliches, unsägliches Gefühl. Auch jetzt fällt es mir schwer, dieses Gefühl zu verdeutlichen. Ich kann es jedoch immer noch in meinem Inneren aufrufen. Verzweiflung? Ausweglosigkeit? Unendlicher Kummer? Jedenfalls war es keine normale Traurigkeit eines gekränkten Kindes, die sich in gewisser Weise doch vertraut anfühlt, die Hoffnung birgt, die nach Verständnis ruft. Nein, das war es nicht. Ein Gefühl der Endgültigkeit? Des Erkennens – hier erwartet mich nichts, hier gibt es nichts? Ich wollte auch nichts, ich wollte nur irgendwie, irgendwohin verschwinden, nicht mehr sein.
Das war meine erste Begegnung mit dem, was ich heute als Depression kenne.
Nun musste ich weiterleben, depressiv oder nicht. Und ich lebte weiter, ich hatte mich mit ihr – dieser hässlichen, grauen Hexe – arrangiert; meistens gelang es mir, sie im Hintergrund zu halten, nicht zuzulassen, dass sie mich und mein Dasein völlig vereinnahmte. Aber sie war immer präsent. Eigenartigerweise konnte ich sie in stillen Momenten am stärksten spüren. Da reichte es nur, den Blick über die weiten Felder zum Horizont, zum grünen Waldstreifen schweifen zu lassen, um zu wissen – da, über der dünnen, grünen Linie flackert etwas. Es lauert in der Ferne und wartet den passenden Moment ab, um mich zu überfallen und mir alles zu nehmen, um mich zu lähmen und vielleicht auch ganz zu vernichten.
Dieses Etwas bekam natürlich noch seine Gelegenheit zuzuschlagen – es war nur die Frage der Zeit.
Als Kind und Jugendliche hatte ich mit niemandem darüber gesprochen, mich nie beklagt. Wie sehr sehnte ich mich jedoch danach, dass man mich anspricht, mich fragt, wie es mir geht, was mir fehlt. Ich versuchte sogar, Erwachsene auf mich aufmerksam zu machen, indem ich demonstrativ meine Traurigkeit zur Schau stellte. Aber auch das nutzte nichts; keiner hatte das kleine Mädchen und seine stummen Hilferufe wahrgenommen, keiner hatte es verstehen können. Was hätte ich auch den Menschen, den Erwachsenen sagen wollen? Das wusste ich nicht, ich wusste nicht einmal richtig, was mich so quälte. Vielleicht hätte es mir gereicht, einfach nur getröstet und in die Arme genommen zu werden.
Erst Jahrzehnte später ist das tief Vergrabene aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche gelangt. In einer Schreckensstunde konnte ich den Grund meiner Depression erkennen und viele meiner Eigenarten verstehen.
Ich erinnere mich, wie es mir erging, als die Ahnung in mir aufkeimte, als ich endlich begriff, was mir, als ich noch klein war, angetan wurde. Begriff und doch nicht begreifen konnte. Ich zweifelte an mir selbst, an meinem Verstand. So etwas dürfte doch nicht sein!
Ich wollte es nicht glauben, mein Verstand sträubte sich dagegen. Doch das kleine Mädchen in mir wusste es besser. Es flehte mich an, ihm zuzuhören, seinen Schmerz wahrzunehmen, es zu beschützen. Viel zu spät, dachte ich, viel zu spät! Ich dachte, das würde ohnehin keinen Sinn mehr haben, keiner könnte das, was geschah, rückgängig machen, nicht einmal eine „Rechnung“ könnte ich dem Täter vorlegen, denn er lebte nicht mehr. Ich beschloss, die Sache für mich zu behalten – keiner sollte davon erfahren. Zu groß war meine Scham. Die Scham eines Kindes. Das verstand ich jedoch erst später! Und mit diesem Verstehen kam der Zorn – nein, so nicht. SO NICHT! Du bist erwachsen, du kannst nicht die kleine Rosa, die jetzt erst, nach fast fünfzig Jahren sich zu Wort meldet, wieder zum Schweigen zwingen. Sie will gehört werden – vielleicht auch von der ganzen Welt, aber zuallererst von dir, denn nur du kannst dich ihrer annehmen, ihren Schmerz fühlen, ihre Scham verstehen und sie überwinden.
Nein, ich wollte nicht mehr schweigen, egal, wie groß der Widerstand und Unmut in meinem Umfeld auch sein mochte. Darum schrieb ich meine Geschichte auf und veröffentlichte sie.
Peinlich? Nein, im Gegenteil – es tut der kleinen Rosa, die sich so lange vergeblich nach Verständnis und Zuneigung gesehnt hatte, gut. Und die große Rosa empfindet so etwas wie Befreiung, Genugtuung. Ich weiß, nicht alle können dies nachvollziehen, aber das ist unwichtig. Wichtig ist, dass es uns beiden hilft. Es ist unsere eigene Therapie, wenn man das so betrachten will. Die große Rosa ist stolz darauf, dass die kleine Rosa so tapfer war und trotz allen Widrigkeiten ihren Weg gegangen ist.
Mit diesen offenen Worten will ich noch einmal deutlich zum Ausdruck bringen: Ich, Rosa Ananitschev, lebe mein Leben und bewältige alles auf meine eigene, ganz persönliche Art, und nur so ist es richtig.
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Melinas-Pollys (Montag, 07 Oktober 2019 20:38)
Das hast Du so schön ausgedrückt und ich kann dazu sagen, dass es mir ähnlich geht mit dem Schreiben. Es ist dem Innen, dem lange Zurückgehaltenen, dem damals nicht dasein dürfen gewidmet, dass wir uns endlich selbst zuhören. Aber es ist noch weit mehr für mich - ich lerne dadurch Seiten in mir kennen, die ich Jahrzehnte lang nicht bemerkte und die ich jetzt für mich selbst ausdrücken kann, jemanden mitteilen kann. Bei Lesungen merke ich, dass es mir immer noch so geht, dass ich weinen muss bei meinen Geschichten, nicht aus Traurigkeit, sondern weil ich die Gefühle der Protagonisten so deutlich spüre und so berührt davon bin (weil sie einen verborgenen Teil von mir zeigen). Ist das nicht schön, dass man damit auch andere Menschen berühren kann und sogar nach Jahren noch von den eigenen Geschichten tief berührt wird. Es liegt Heilung in diesen Geschichten.
Rosa (Dienstag, 08 Oktober 2019 14:25)
Herzlichen Dank! Ich bin ganz Deiner Meinung und kann Deine Worte nur unterschreiben. Genauso geht es mir auch ...
Monika-Maria Ehliah (Montag, 25 Oktober 2021 17:33)
Liebe Rosa!
Schreiben um heil zu werden.
Ja! Und es ist nicht nur dein heil werden ... es ist ein kollektives heil werden.
Das brauchen die Menschen - das braucht die Welt!
Herzlichst M.M.
Ich erlaube mir, dir eine Umarmung hier zu lassen!
Rosa (Dienstag, 26 Oktober 2021 13:42)
Herzlichen Dank, Monika-Maria, fürs Lesen und Verstehen. Und für die Umarmung, die ich gern erwidere, wenn auch nur virtuell :-)
Rosa