"Besonders glücklich bin ich aber, wenn einer glücklich ist, den ich liebe."
Sei Shōnagon
... Ein Zitat, das ich vor vielen Jahren entdeckte. Diese Worte berührten mich sehr, ließen mich innehalten, in mich hineinhören und sie als (m)eine persönliche Wahrheit erkennen.
Therapiegespräche tun einem gut, will man doch meinen. Man kann sich alles von der Seele reden, schafft Klarheit in vielerlei Dingen. Das stimmt ja auch. Einerseits. Andererseits ist das Eintauchen in die Welt, die schon lange hinter mir liegt, nicht gerade angenehm. Es ist ein Stück Arbeit, die oft weh tut. Nicht, weil irgendetwas Schreckliches ans Licht kommt (das sicher auch), aber viel mehr, weil ich wieder Menschen "begegne", die längst nicht mehr da sind, Menschen, an die ich oft denke, die jedoch in ihrem Leben unglücklich waren. Ich weiß das und dieses Wissen schmerzt. Und es schmerzt, darüber zu reden.
Ich sehe meine Mutter vor mir, ihr bekümmertes Gesicht. Ich bin wieder in meine Kindheit versetzt, befinde mich in unserem Haus im Dorf, in der Atmosphäre der Kühle, der Sorgen, der Ängste. Meine Eltern sind mit dem Alltag und ihrer Arbeit beschäftigt. Ich mit mir selbst und meiner kleinen / großen Welt. Irgendetwas quält mich, macht mich unruhig. Zuweilen habe ich das Gefühl, als gehöre ich nicht hierher, als wäre ich von einem fremden Planeten. Oft fühle ich mich allein, nicht beachtet. Dann flüchte ich gedanklich in ein anderes, von mir selbst erfundenes Reich, in dem alles so schön und bunt und voller Wärme und Licht ist, in dem nicht nur ich glücklich bin, sondern auch meine Mama. In dem sie lacht und mich zum Lachen bringt ... denn in der Wirklichkeit höre ich sie nur selten lachen.
In der wirklichen Welt traue ich mich nicht, sie zu umarmen, überhaupt irgendeine Art Zuneigung zu zeigen und erwarte auch nichts dergleichen von ihr. Eigentlich spüre ich nicht einmal das Bedürfnis danach. Es kommt mir auch nie in den Sinn, meine Mutter um Rat zu fragen oder um Hilfe zu bitten, ihr von meinen Problemen zu erzählen. Dafür ist die Distanz zwischen uns zu groß und für mich unüberwindbar. Und sie macht ja auch keinerlei Versuche, mir näher zu kommen. Nur einmal zeigt sie sich besorgt. Ich bin vierzehn, helfe ihr bei der Gartenarbeit, habe aber an dem Tag ziemlich üble Bauchkrämpfe. Wahrscheinlich sehe ich blass und krank aus und Mutter merkt es. Sie fragt, ob es mir nicht gut gehe ... Wenn was sei, solle ich es ihr sagen ... Es ist mir sehr peinlich, auf keinen Fall kann ich Mama sagen, dass ich meine Periode habe, die wie immer von starken Blutungen und Schmerzen begleitet ist. Sie weiß ja nicht einmal, dass ihre Tochter schon soweit ist, vermutet es wahrscheinlich bloß ... Also schüttele ich den Kopf: nein, nein - es ist nichts, alles gut, und mache weiter.
Damals wusste ich nicht, warum sie so unnahbar und so oft traurig war, fühlte aber mit ihr, fühlte ihre düstere Stimmung, ihre Lebensmüdigkeit. Ich war ein schüchternes, mitunter depressives, aber auch sensibles Kind und denke, dass Mutters Stimmung sich auf dieses Kind in gewisser Weise übertrug. Das machte es dem Kind - mir - doppelt so schwer. Denn ich hatte dann nicht nur mein eigenes Päckchen zu tragen, sondern versuchte unbewusst auch das meiner Mutter aufzuschultern. Vielleicht deswegen lasteten nach ihrem Tod noch Jahrzehnte lang Schuldgefühle auf mir.
Es fiel mir schwer, mich gegen sie aufzulehnen, wenn sie von mir Dinge verlangte, die ich schon als junger Mensch mit mir selbst nicht vereinbaren konnte. Wie, zum Beispiel, mit den Eltern zum Gottesdienst zu gehen und zu beten. Mein hartnäckiges Nein kränkte sie, brachte sie zum Weinen. Ich weinte lautlos mit, aber das änderte nichts an meiner Entschlossenheit - bereits als Kind ließ ich mich nicht leicht verbiegen. Heute sagt man mir nach, ich sei stur. Vielleicht ... Aber nur so konnte ich ich selbst bleiben. Sonst wäre ich heute mit Sicherheit ein anderer Mensch und ob der auch sicher besser wäre? Das wage ich zu bezweifeln.
Heute verstehe ich das Warum. Wenn ich mir ihr Leben vor Augen führe, schaudert es mich, mein Herz zieht sich zusammen und ich bin immer wieder den Tränen nahe. Wie konnte eine Frau unter solchen Lebensbedingungen glücklich oder auch nur ansatzweise zufrieden sein? War sie überhaupt imstande Liebe zu empfangen, Liebe zu geben? Wie viele innere Kämpfe hatte sie ausgetragen, wie oft stieß sie an ihre Grenzen? Wie oft hatte sie keine Kraft mehr und verlor ihren Lebensmut?
Ida Hetterle war zwanzig Jahre alt, als 1933 ihr Vater enteignet und die ganze Familie mit nur wenigem Gepäck aus der Ukraine nach Sibirien deportiert wurde. Nach einer langen, leidvollen Etappe kamen Johann und Margarita Hetterle mit ihren sechs Kindern in Schönfeld im Omsk-Gebiet an, wo sie sich niederlassen durften. Mithilfe der Dorfbewohner, die überwiegend auch deutscher Nationalität waren, gelang es ihnen, wieder Fuß zu fassen und ein wenig Normalität in ihr Leben zu bringen, die allerdings nicht von langer Dauer war. Das grauenvolle Jahr 1937 stand schon quasi vor der Tür ...
Im Zug lernte Ida einen jungen Mann kennen. Ob das, was die beiden füreinander empfanden, Liebe war? Wie auch immer, diese Beziehung hatte keine Zukunft. Ebenso ein Vertriebener musste der junge Mann zu seinem Bestimmungsort weiter gen Osten fahren. (Zum besseren Verständnis: Verlassen des zugewiesenen Wohnortes war den Deportierten unter keinen Umständen erlaubt). So trennten sich, kaum zusammengekommen, ihre Wege. Noch lange trauerte meine Mutter dem Jungen nach ... Noch lange bewahrte sie sein Abschiedsgeschenk auf - eine kleine Holzschatulle ... Diese, für mich sehr bewegende, Geschichte kenne ich allerdings nicht von der Mutter selbst - meine ältere Schwester hat sie mir erzählt.
1935 heiratete Ida den zwei Jahre jüngeren Jakob Schütz, obwohl sie für ihn keine Liebe empfand. Jedoch hatte sie keine Wahl (zu damaligen Zeit nicht!) und ich kann ihre Beweggründe für diese Eheschließung gut nachvollziehen.
Und da klopfte es auch schon an, das Jahr 1937. Das Jahr, das den Anfang einer besonders grausamen, langen Zeit der Repressalien unter Stalins Regime machte. Mein Großvater, dessen ältester Sohn (Mamas Bruder) sowie acht weitere deutsche Männer aus dem Dorf wurden als Volksverräter verhaftet. Man riss sie nachts aus dem Schlaf und brachte sie für immer fort. Erst 1989 erfuhr die Familie, dass Johann Hetterle kurze Zeit nach seiner Verhaftung hingerichtet wurde, aber auch, dass er schon im Januar 1958 (nach Stalins Tod) rehabilitiert wurde. Man hielt es wohl für unwichtig, die Angehörigen wenigstens zeitnah darüber zu informieren.
1941. Der 2. Weltkrieg. Die Dorfbewohner deutscher Abstammung waren als Soldaten nicht zu gebrauchen – man befürchtete ein Überlaufen zu den Faschisten. Für sie gab es etwas viel, viel Passenderes – die "Arbeitsarmee". Im Grunde war das nichts anderes als ein Konzentrationslager. Im November 1942 war Jakob Schütz an der Reihe. Ida blieb allein zurück - zu dieser Zeit hatte sie schon zwei kleine Kinder und war schwanger mit dem dritten.
Ja, die Sache mit den Kindern. Sieben waren es, die sie in Abständen von zwei-vier Jahren zur Welt brachte. Als das letzte - meine jüngste Schwester - 1957 kam, war unsere Mutter 44 Jahre alt und hatte noch weniger als 14 Jahre zu leben. Ich bin mir sicher - sie hätte nie so viele Kinder haben wollen, hätte sie Schwangerschaften vermeiden können. Aber auch das war zu damaligen Zeit nicht möglich und ein Schwangerschaftsabbruch kam für sie als Christin grundsätzlich nicht infrage.
Allein drei Kinder durchzubringen - in Kriegszeiten! Was hatte sie das gekostet? ... Eigentlich waren es ja sogar vier. Denn unser Vater, der ganze sieben Jahre Zwangsarbeit leisten musste, bekam im Herbst 1946 ein paar Wochen Urlaub ... Das hatte zur Folge, dass im Juli 1947 das vierte Kind zur Welt kam. Jakob konnte bei dieser Geburt nicht anwesend sein, er durfte erst 1949 zu seiner Familie zurückkehren.
Danach gab es ein paar ruhigere Jahre zum "Verschnaufen", bis mein Vater 1958 aufgrund falscher Anschuldigungen (es fehlte in der Kasse des Kolchos*, wo er als Buchhalter arbeitete, ein beträchtlicher Geldbetrag) zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Mama blieb wieder allein, nun mit fünf Kindern. Die zwei ältesten waren zu dieser Zeit schon aus dem Haus. Diesmal aber siegte doch die Gerechtigkeit - es stellte sich heraus, dass Vater unschuldig war und er wurde nach "nur" acht Monaten Haft entlassen.
Auf den ersten Blick sind das alles mehr oder weniger kahle Daten und Fakten. Dahinter verbirgt sich jedoch ein Leben, voller Entbehrungen und Schmerz, ein Leben, das für meine Mutter viel zu oft unerträglich war. Ich habe das erst viel später verstanden und mir immer wieder Vorwürfe gemacht, mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich versucht hätte, mit meiner Mutter zu reden, sie zu verstehen, Anteil an ihren Gedanken und Sorgen zu nehmen. Heute weiß ich, dass ich nur wenig, oder sogar nichts hätte bewirken können.
Im Buch "In der sibirischen Kälte" erzähle ich natürlich mehr über meine Mutter und das Leben in Sibirien. Hier in diesem Blogbeitrag möchte ich einen Absatz daraus zitieren - als Abschluss. Es ist etwas, das mir half, Frieden mit meiner Mutter zu schließen, mich ihr näher zu fühlen, eigenartigerweise viel-viel näher als einst zu ihren Lebzeiten ...
"Im letzten Sommer hatte ich eine Phase, in der ich mich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigte. Wie so oft, verfolgten mich meine Gedanken auch im Schlaf weiter. Und in einem Traum widerfuhr mir etwas ganz Besonderes: Meine Mutter und ich begegneten einander. Obwohl mir klar war – sie ist tot, war ich gleichzeitig sicher, dass sie gekommen war, um sich mit mir auszusprechen. Nie zuvor hatte ich in der Realität ein so tiefes, warmes, schönes Gefühl der Nähe und Geborgenheit gespürt. Als ich aufwachte, hätte ich nicht wiedergeben können, was sie mir erzählte. Ich wusste nur, es war bewegend, und auch ich vertraute meiner Mutter alles an, was mir auf dem Herzen lag – alles. Das Wundervollste war – sie fühlte mit mir, sie verstand mich, nahm mich an, wie ich war. Dann tat sie etwas ganz Unerwartetes, was sie zu Lebzeiten nie über sich gebracht hatte … sie schloss mich in ihre Arme. Wir weinten beide, und mit einem Mal wusste ich – Mama hat mich geliebt, immer. Sie hat uns alle geliebt. Alle sieben."
*Kolchos - Abkürzung von "Kollektive Wirtschaft" (übersetzt aus dem Russischen).
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Elsa (Donnerstag, 01 August 2019 17:01)
Was für eine Geschichte!
Und ich dachte, ich wäre streng erzogen worden, wir hätten ein bescheidenes nüchternes Leben geführt. Im Vergleich zu deiner Kindheit hatten wir das Paradies. (Du und ich, wir sind im selben Jahr geboren.)
Danke fürs Lesen-lassen! Danke für den Einblick in die deutsch-russische Geschichte. Was die Politik verbrechen kann! Wie weit ihre Macht hinein reicht in die Leben ihrer Menschen, in die Seelen der Staatsbürger!
Rosa (Freitag, 02 August 2019 13:54)
Liebe Elsa,
danke Dir fürs Lesen und Deine Worte!
Ja, was in Russland im vergangenen Jahrhundert alles war - das ist mehr als grauenhaft, besonders zu Lenin und Stalins Zeiten. Die zwei sind die größten Verbrecher der menschlichen Geschichte. Ich bin froh, nicht mehr in diesem Land leben zu müssen.
Liebe Grüße
Rosa
PS. Deinen Blog werde ich unbedingt noch "besuchen", bin gespannt auf Deine Geschichten.
Melinas-Pollys (Freitag, 18 Oktober 2019)
Zu der Sturheit - hat die Dami Charf (meine LeibundMagen-Therapeutin virtuell) mal in einem ihrer Videos gesagt ist eine Ressource. Ich habe das Video gerade versucht zu finden - aber stattdessen ein anderes gefunden:
https://www.traumaheilung.de/trauma-helden/ das hier zu diesem Beitrag auch wunderbar passt - vielleicht sogar eine Hilfe ist für Deine Tochter.
Alles Liebe
Rosa (Dienstag, 22 Oktober 2019 16:16)
Liebe Melinas,
danke für den Link! Sehr interessant.
Herzliche Grüße
Rosa