Auszug aus meinem Buch
"In der sibirischen Kälte"
Ich trete vorsichtig in einen dunklen, kühlen, weiten Raum ein und bevor ich mich richtig umsehen kann, bin ich eins mit der Gestalt, die sich dort befindet. Es erschreckt mich nicht, denn ich weiß sofort – diese Gestalt bin ich selbst, ich vor vielen Jahren.
Mich umgibt eine Sommernacht. Sie ist still, so still, dass ich fast glaube – es gibt nichts mehr, außer dieser Stille und Dunkelheit. Die ganze Welt scheint im tiefen Schlaf versunken zu sein, nur ein schwaches Rauschen und Rascheln ist hin und wieder zu hören. Wie so oft sitze ich vor dem Gartenzaun auf einer kleinen Holzbank, atme die frische Luft ein und lausche den geheimnisvollen Geräuschen. Ist es der Wind, der mit den Blättern des alten Ahornbaumes spielt? Oder ist es eine Katze auf ihrem nächtlichen Spaziergang? Ich bin allein, fürchte mich vor nichts, außer vielleicht vor mir selbst, und ich bin fünfzehn Jahre alt.
Wie merkwürdig nachts alles aussieht! Die schönen Farben, die vor ein paar Stunden noch die Welt beherrschten, sind verschwunden. Die Schwärze hat sie vertrieben und übt nun ihre unbegrenzte Macht aus.
Ich schicke meinen Blick zu den Sternen, die über mir leuchten, und erkenne viele der geflüchteten Farben wieder. Gold und Orange, Blau und Silber gehören jetzt zum Sternenreich und funkeln herab wie kleine Edelsteine. Die Sterne. Wie faszinierend sind sie! Stundenlang könnte ich sie betrachten. Manchmal verbinde ich sie miteinander und male mir ganz besondere Figuren aus – meine eigenen Sternkreise, erschaffe mir mein eigenes Universum. So entdecke ich in dieser Nacht in der entferntesten Ecke des Himmels einen kleinen Stern, der besonders fröhlich – in allen Regenbogenfarben schillernd – zu mir herunterblickt. Und ich denke – wenn ich, wie meine beste Freundin schon immer behauptete, nicht von dieser Welt bin, dann komme ich bestimmt von diesem schönen Stern, der mir jetzt aus der unglaublichen Ferne seine Aufmerksamkeit schenkt.
Meine Gedanken, die am Tag noch so schwer und trüb und hoffnungslos waren, verändern sich auf wundersame Weise. In der Dunkelheit unter dem Sternenglanz werden sie immer heller und leichter, als zögen die Strahlen alle Schwärze und Schwere aus ihnen heraus und lösten sie auf. Verblüfft entdecke ich darunter einen verborgenen Schatz – eine wunderbare Idee, die mir so sehr fehlt. Wahrscheinlich war sie immer schon da, nur konnte ich sie unter der erdrückenden Last nicht sehen und nicht fühlen. Jetzt, befreit und ins helle Licht gesetzt, glänzt sie in all ihrer Pracht. Könnte das nicht die schon lange von mir gesuchte Lösung für mein ganzes Leben, sein? Eben noch so einsam und verloren, fühle ich mich jetzt wie vereint mit der ganzen Welt. Ich weiß – ich bin ein Teil dieser seltsamen, ewigen Unendlichkeit. mein Leben ist perfekt gefügt, um dazuzugehören – für immer. Diese einzigartige, besondere Gewissheit, die ich als Kind besaß, die sich mit zunehmendem Alter leider verflüchtigt hatte, kehrt zu mir zurück. Plötzlich bin ich wieder überzeugt, dass ich unsterblich bin. Sterben? Ich? Niemals! Wie soll das denn gehen? Wie soll denn diese ganze Welt – mein Universum, mein Fühlen, mein Denken – einfach verschwinden?
Ich stelle mir vor, wie die Menschen reagieren werden, falls ich ihnen meine Gedanken offenbare, wie sie sich wundern werden: ’Hast du seltsame Ideen!’ Nun – warum nicht? Schließlich bin ich ja auch nicht von dieser Welt ...
In Wirklichkeit weiß ich jedoch, dass ich niemandem davon erzählen werde, dafür bin ich viel zu schüchtern. Allein meinem alten treuen Freund – meinem Tagebuch – werde ich es anvertrauen. Ich verspüre den Drang, es sofort zu tun, um möglichst genau festzuhalten, was in meinem Kopf herumschwirrt und sich schon fast zu einer Geschichte verdichtet hat, verspüre das Bedürfnis, die Gefühle, die mein Herz überströmen, in Worte zu fassen. Aber das ist nicht möglich, ich darf niemanden im Haus wecken. Also beschließe ich, das Schreiben auf morgen zu verschieben und selbst auch schlafen zu gehen.
Ich schaue zum Himmel auf, um meinem Stern einen letzten Gruß zu schicken und stelle fest, dass er verschwunden ist. Doch es bedrückt mich nicht, denn ich bin sicher – er und ich sehen uns bald wieder.
Leise verlasse ich das Mädchen von einst, verlasse den dunklen Raum, in dem es sitzt und träumt, verschließe dennoch nicht die Tür. Irgendwann werde ich bestimmt zurückkehren und sie öffnen wollen, um erneut in meiner Vergangenheit zu verweilen, in einem ihrer schönsten Momente.
In diesem Hof spielte ich als Kind und auf der kleinen Holzbank saß ich oft im Schatten des alten Ahornbaumes und dachte nach – über
Gott und die Welt und über mich selbst. Das Foto ist 2003 aufgenommen, als ich meine Heimat einmal besucht hatte. Es sieht alles ungepflegt, fast verfallen aus, aber die Bank ist noch zu erkennen
und der Ahornbaum ist auch noch da ...
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Christel Wismans (Montag, 14 Dezember 2015 18:40)
Liebe Rosa, und schon wieder nimmt mich deine Erzählung sofort gefangen. So, wie du schreibst, schreibt niemand anders. Das muss an deinem Stern liegen, er hat dich schon früh in seinen bunten Sternenstaub gehüllt und dir so dein Talent geschenkt.
Ganz liebe Grüße - und ich freue mich schon sehr auf dieses neue Buch!!!
Christel
Rosa (Dienstag, 15 Dezember 2015 09:47)
Liebe Christel,
herzlichen Dank für Deine wunderbaren Worte, die mich sehr berührt haben ...
Ich weiß es nicht - vielleicht liegt es an meinem Stern, mit dem ich immer noch eine Verbundenheit spüre, vielleicht aber auch einfach daran, dass das, was mein Leben geprägt, was mich bewegt hat, jetzt befreit werden muss ... Dazu kommt ein bisschenTalent ... und die Mischung macht's :-)
Rosa