Vor einiger Zeit riefen die Freunde der Stadtbücherei Lüdenscheid zu einem Schreibwettbewerb auf. Thema: "Erfahrungen mit der Corona-Pandemie". Die Idee dazu kam von einer Lüdenscheiderin. Bürgermeister Sebastian Wagemeyer übernahm die Schirmherrschaft über das Projekt. Nun sind einige Texte und sogar Gedichte zusammengekommen. Mit dabei auch ein Text von mir: "Corona und die Diktatur".
Die Textsammlung gibt es nur online. Ihr findet sie auf der Homepage: Freunde der Stadtbuecherei Luedenscheid - Aktuelles
Mein Beitrag:
Corona und die Diktatur
Was passiert da gerade in Deutschland, in der ganzen Welt? Wir alle befinden uns in einer Krise, die großen Schaden anrichtet. Man kann sie Pandemie, man kann sie Covid-19, man kann sie Corona nennen – die Bezeichnung ändert diesen Zustand nicht. Menschen sterben, die Wirtschaft leidet, Unternehmen werden insolvent. Das unsichtbare Virus spaltet gleichwohl unsere Gesellschaft und ruft eine Vielzahl Querdenker hervor, deren Sichtweise größtenteils extremer Natur ist. Da wird Coronaimpfung mit Mord gleichgestellt und Quarantäne mit einem Konzentrationslager verglichen. Es wird behauptet, Coronapandemie sei bloß ein Trick, ausgedacht und verbreitet von einer geheimen Weltmacht, um die Bevölkerung der Erde zu versklaven, und die Regierung Deutschlands gehöre dazu. Angela Merkel will uns in die finstere Diktatur führen; sie hat sich das gar zum Ziel gesetzt – auch solche Stimmen sind laut.
„Wir werden bald tief mittendrin sein. Wir sind schon mittendrin!“, lese ich in dem einen oder anderen Blogbeitrag und alles sträubt sich in mir dagegen: „Diktatur? Überall? Oder nur in Deutschland?“ und ich frage die Verfasserin oder den Verfasser: „Weißt du überhaupt, was eine Diktatur ist?“
Wie erwartet, kommen Antworten, in denen es um die Nazipartei, Hitler, die Jahre 1933 bis 1945 geht.
Sieht es in Deutschland denn tatsächlich so aus, als ob eine Partei oder eine Person die Macht übernommen hätte, um alle anderen zu unterdrücken? Werden Coronamaßnahmen, von „oben“ aufgezwungen, dazu benutzt, um uns in den Abgrund zu treiben?
Ich weiß nicht, ob alles richtig ist, was die Regierung macht. Es ist schlimm, dass die Geschäfte und Restaurants geschlossen sind, dass es den Selbstständigen so schlecht geht. Auch ich stehe skeptisch einigen Regelungen gegenüber. Es könnte doch sein, dass alles übertrieben ist, dass es andere Wege gibt. Aber ich denke auch – wer weiß schon, was in solcher Situation angemessen und was falsch sein soll? Und ich sage mir – wir haben immer noch unsere grundsätzlichen Freiheiten, die uns in einem demokratischen Land keiner so einfach wegnimmt.
Ich bin keine Medizinerin, keine Wirtschaftsexpertin, keine Politikerin. Ich bin bloß eine Frau, die sich ihre Gedanken macht. Ich komme aus einer anderen Welt, wenn man das so sagen darf, und ich weiß, was Diktatur wirklich heißt. Eine Diktatur, die mehr als 70 Jahre lang dauerte, die es heute noch in einigen Ecken der Welt gibt, auch immer noch bedingt in meiner alten Heimat – in Russland. Eine Diktatur, von der zwar nicht ich betroffen war, aber meine Großeltern und Eltern sowie Millionen Menschen, die verfolgt, vertrieben, dem Hunger und der Kälte ausgesetzt, in Lager gesperrt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden. Nicht „nur“ ein paar Millionen – zig Millionen! Ich will hier keine Zahlen nennen, denn darum streiten sich selbst die Historiker – ich möchte hier bloß ein paar Wahrheiten einbringen.
1933. Die Tyrannei nimmt weiter Fahrt an. Meine Großeltern (mit fünf Kindern) werden aus ihrer Heimat in der Ukraine nach Sibirien deportiert. Grund: sie waren christlich, „reich“ und dazu auch noch deutscher Nationalität. Also – selbst schuld.
Vier Jahre später. 1937 – der Höhepunkt der Repressalien. Wieder trifft es Großvater, der zusammen mit seinem Sohn und acht weiteren Dorfbewohnern verhaftet wird. Neun Männer, darunter Großvater und mein Onkel, werden schon wenige Wochen danach hingerichtet, einer bekommt zehn Jahre Straflager. Grund? Es gab keinen, außer dass sie angeblich Volksverräter wären. Von ihrem Schicksal erfuhren die Familien erst Ende der 80er-Jahre.
1942. Mein Vater wird für sieben Jahre in die Trudarmija (Arbeitsarmee) Zwangs-mobilisiert, obgleich zwei kleine Kinder zurückbleiben und meine Mutter ein drittes Kind erwartet. Grund: er war ein Deutscher, also ein potenzieller Faschist, also hatte er seine Schuld zu begleichen und dem Vaterland (dem Diktator) zu dienen.
Das betrifft nur eine (meine) Familie. Wie viele solcher Familien gab es in der UdSSR (nicht nur deutsche), wie viele Dörfer und Städte? Wollen wir einmal die Schicksale zusammenrechnen? …
Nein, diejenigen, die jetzt in Deutschland auf die Straßen gehen (habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie viele Neonazis und dergleichen da mitmarschieren?), schreien und die Diktatur voraussagen – ihr wisst nicht, was eine Diktatur ist. Aber wenn ihr wollt – ihr könnt sie wahrhaftig und am eigenen Leib erfahren, schon jetzt, schon heute. Dazu braucht ihr nur nach Belarus zu fahren. Oder nach Tschetschenien. Oder meinetwegen auch nach Russland. Geht doch dort einmal zum Protestieren auf die Straßen. Was meint ihr, geschieht dann mit euch? …
Ich frage mich immer wieder: warum? Warum denken die Querdenker so … so radikal „quer“?
„Wischt euch den Sand aus den Augen und fasst Mut, die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind – auch wenn es vielleicht nicht so leicht fällt, sich einzugestehen, dass man Mitläufer und Feigling war und ist“, lese ich in einem Blogartikel, und es kocht in mir hoch.
Wenn dann noch auf meinen Kommentar die Antwort kommt, dass jeder für sich prüfen müsse, ob er in antidemokratischen Verhältnissen leben wolle, und wenn nicht, ist er aufgefordert mutig Stellung zu beziehen (wobei natürlich ich gemeint bin), kann ich es kaum fassen.
Ich muss so etwas nicht einmal prüfen, um Stellung zu beziehen – ich weiß, wie ich leben will.
Wie kommt man darauf, dass Menschen, die nicht die gleiche Querdenker-Meinung haben, in antidemokratischen Verhältnissen leben wollen, dass sie von „Mainstreammedien“ manipuliert sind, dass sie keinen Mut haben? Alle Menschen, die ich kenne, sind für die Demokratie, auch wenn sie sich nicht unbedingt als Querdenker bezeichnen, auch wenn sie die Pandemie-Regeln befolgen und die meisten von ihnen vorhaben, sich impfen zu lassen. Warum nimmt man sich heraus, sie zu beschuldigen, sie wären Feiglinge und Mitläufer. Mitläufer wohin? In die finstere Diktatur? …
Warum sind Querdenker überzeugt, dass sie in allem recht haben? Vielleicht sollten sie doch nicht ausschließlich quer denken, sondern auch manchmal schlicht gerade, und vielleicht liegt die Wahrheit ja dazwischen, oder ganz woanders, und unsere Demokratie ist trotzdem nicht gefährdet? … Wenn man nur quer denkt, läuft man Gefahr, eines Tages stecken zu bleiben oder gänzlich in den Verschwörungstheorien zu versinken, die zurzeit das Internet überschwemmen und zum Teil so absurd sind, dass sie schon lächerlich wirken.
Diese Regierung macht einiges falsch – das streite ich gar nicht ab. Aber ihr zu unterstellen, dass sie (zusammen mit anderen Regierungen) sich Corona ausgedacht hat, dass sie absichtlich die Demokratie zunichtemachen und das Land in den Ruin treiben will, ist schier ungeheuerlich. Es sind Behauptungen, die keinen Boden haben.
Eine interessante Frage kommt mir gerade in den Sinn: Gegeben der Fall, es wären keine Maßnahmen ergriffen, alle Bürger hätten frei zu entscheiden, wie sie sich verhalten, es würde nicht nach Impfstoffen geforscht, nicht geimpft – wie würden Querdenker dann reagieren? Ich fürchte, ihre Empörung wäre dann noch größer, nur ginge sie in die umgekehrte Richtung.
Oder resultiert meine Stellung zum Thema „Corona und die Diktatur“ daraus, dass ich selbst aus dem totalitären Regime komme? Dass ich zu viel darüber weiß? Sehe ich das Ganze hierzulande deswegen mit anderen Augen, weil ich mir nicht eingestehen will, dass ich aus einer Diktatur in die andere hineingeraten bin? Ist das mein „Problem“?
Ja, es ist mir zuwider, Deutschland auch nur ansatzweise mit der ehemaligen Sowjetunion, der DDR oder einem anderen totalitären Staat zu vergleichen! Ich kann es nur fortwährend wiederholen – ich erkenne in Deutschland keine Diktatur, weder jetzt noch in absehbarer Zukunft.
Sollte ich mich irren, dann … dann verstehe ich die Welt nicht mehr.
„Schreiben in Zeiten von Corona“ – unter diesem Arbeitstitel haben die „Freunde der Stadtbücherei Lüdenscheid“ darum gebeten, solche Texte zur Verfügung zu stellen. Bürgermeister Sebastian Wagemeyer hat die Schirmherrschaft für das Projekt übernommen.
Eine Auswahlkommission hat die eingegangenen Texte gesichtet und die Texte schließlich zusammengestellt.
"Inspiriert durch Corona" lautet der Titel.
Unter folgendem Link kann die Textsammlung heruntergeladen werden: Textsammlung
Wichtiger Hinweis: Die Textsammlung ist urheberrechtlich geschützt, die Rechte für die einzelnen Texte liegen bei den Autorinnen und Autoren (vgl. S.1.
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Michi (Montag, 19 April 2021 19:34)
Es ist tatsächlich lächerlich, was im Internet so wegen den Querdenkern gepostet wird! Für mich persönlich sind das Menschen, die nicht selbst nachdenken und sich nur anhängen. Haben die etwa Angst wegen des russischen Impfstoffes? Sie sollten in sich gehen und das hier lesen, um endlich eine eigene Meinung dazu zu bilden! Wegen der Demos wird das alles sich noch mindestens ein Jahr hinziehen! Dazu kommt, dass Demonstranten schon fast so etwas wie fahrlässige Körperverletzung betreiben gegen alle! Sie sollten da auch zu Ende denken! Wie viele werden dazu beigetragen haben, dass viele Familien noch mehr Angehörige verlieren? Nachdenken, da fehlt den meisten die Zeit dazu, weil sie in jeder Sekunde erreichbar für irgendwelche *Follower* sein müssen. Das ist sehr traurig alles..
Rosa (Dienstag, 20 April 2021 12:30)
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C Stern (Mittwoch, 10 August 2022 22:56)
Auch dieses Thema hat mich sehr beschäftigt und ich habe die politische und gesellschaftliche Lage rundherum wohl ähnlich eingeschätzt wie Du, Rosa. (Allerdings fehlen mir die selbstgemachten Erfahrungen, in einer Diktatur gelebt zu haben, auch, wenn ich dazu unzählige Berichte, Bücher und Dokus kenne.)
Was jetzt - zumindest in Österreich - folgt, das geht in eine "interessante" Richtung: Bislang waren Infizierte in Quarantäne, selbst, wenn sie keine Symptome zeigten; nach den neuen Bestimmungen dürfen Infizierte (ohne Symptome! Diese muss man allerdings nicht immer eindeutig bemerken ...) nun arbeiten. Auch in sensiblen Bereichen, wenn auch mit Mundschutz. (Ich kenne Menschen, die sich trotz Mundschutz infiziert haben, auch mehrmals.)
Stellt sich jetzt im Nachhinein heraus, dass alle Maßnahmen in den letzten Jahren viel zu überzogen waren?
Man darf sich wirklich nicht wundern, dass hier viele nicht mehr folgen können / wollen.
Ich werde meine Selbstverantwortung wahrnehmen und bin mir dessen auch bewusst, dass sich diese für jeden Menschen (etwas) anders definiert.
Die "da oben" können's nämlich auch nicht richten ... Die sogenannten Expert*innen sind sich ja auch noch immer nicht einig ...
Gesellschaftlich hoffe ich, dass endlich mehr Ruhe einkehrt! Danke für Deinen Beitrag, sehr erhellend!
Rosa (Donnerstag, 11 August 2022 13:22)
Dass mehr Ruhe einkehrt, hoffe ich auch, obwohl das Virus ja nicht verschwunden ist. Aber der Krieg hat alles andere in seinen Schatten gestellt.
Danke Dir fürs Lesen. Es stimmt - man muss in einer Diktatur gelebt haben, um es richtig zu verinnerlichen, was das bedeutet, um zu wissen, dass es hier nie zur Diktatur kommen wird, egal was die Querdenker-Experten verbreiten. Es ist mir auch völlig unbegreiflich, warum so viele (wenn auch vergleichsweise in der Minderheit) Russlanddeutsche sich als Putin-Anhänger geben. Wie können sie bloß ihre Großeltern und Eltern so verraten. Ja, ich sehe ihr Verhalten als Verrat an, aber ich schäme mich auch oft, dass sie so ein negatives Bild hier in Deutschland abgeben.