Mein Großvater


Es gibt nur wenig, was ich über meinen Großvater weiß, einen Großvater, den ich nie kennenlernen durfte.

Seine Vorfahren stammten aus Kirchheimbolanden in Rheinland-Pfalz, Deutschland. Sie waren 1807 zunächst nach Ungarn und schließlich 1810 in die Ukraine ausgewandert.

Johann Hetterle wurde 1871 in Peterstal im Odessa-Gebiet (Ukraine) geboren und lebte nach der Heirat mit Margarita König in Scherowo (ebenso Odessa-Gebiet). Sie hatten fünf Kinder. Meine Mutter Ida war das vorletzte von den Fünfen. Die wohlhabende Familie besaß einen kleinen Bauernhof, Johann arbeitete als Lehrer und war ein angesehener Prediger in der Baptisten-Gemeinde des Dorfes. 1933 kam es, wie es kommen musste – die Sowjets enteigneten ihn als Kulak und damit nach ihrer Ideologie als Feind des Volkes. Man nahm den auf diese Weise gebrandmarkten Menschen alles weg, bis auf wenige Sachen im Gepäck, und deportierte sie nach Sibirien.

So kamen die Hetterle's nach Dobroje Pole (Schönfeld) im Omsk-Gebiet. Wenigstens in einem hatten sie Glück – das Dorf war auch von Deutschen besiedelt, die sie herzlich aufnahmen und unterstützten. 

Johann und Margarita Hetterle
Johann und Margarita Hetterle
Margarita Hetterle (geb. König) mit Töchtern Aneta (links) und Ida (meine Mutter)
Margarita Hetterle (geb. König) mit Töchtern Aneta (links) und Ida (meine Mutter)

Ein Wechseln des Wohnsitzes war den Deportierten nicht erlaubt. Um das Dorf zu verlassen, sei es auch lediglich, um in die nächste Siedlung zu gelangen, benötigte man eine schriftliche Genehmigung. Erst im Dezember 1955 wurde diese Meldepflicht (sogenannte Kommandantur) für die deutsche Bevölkerung Russlands aufgehoben.
Im Grunde konnte man die Schicksalsschläge der Deutschen voraussehen und in ihr Leben gleich einberechnen. Im Juli 1937 erfolgte er auch schon – der nächste schwere Schlag. Großvater und sein ältester Sohn (Mamas Bruder) sowie weitere deutsche Männer aus dem Dorf wurden als Verräter verhaftet. Man riss sie nachts aus dem Schlaf und brachte sie fort. Für immer. Mein Vater erzählte, es sei eine Anweisung von ‚oben‘ gewesen – mindestens zehn Dorfbewohner sollten es sein. Die Vorgabe galt wohl als erfüllt und sogar mit „Erfolg“ übertroffen, denn vor die Troika wurden elf Dorfbewohner gestellt und zehn von ihnen zum Tod durch Erschießen verurteilt. Nur einer bekam acht Jahre Lagerarbeit, doch auch ihn sah seine Familie nie wieder. Das alles stellte sich aber erst in den Zeiten der Perestroika heraus. Alle Erkundungen vonseiten der Familien stießen auf eine Mauer des Schweigens, und zu oft Fragen stellen war bekanntlich sehr gefährlich in diesem Land.

1989 bekam mein Bruder auf die erneute Anfrage endlich eine Antwort von der Staatsanwaltschaft der Sowjetunion (deutsche beglaubigte Übersetzung):

 

Auf Ihre Anfrage bezüglich des Schicksals Ihres Großvaters hin teile ich Ihnen mit:

Auf Anordnung der Troika des UNKWD für das Gebiet Omsk vom 17.11.37 ist Iwan Hetterle, geboren 1871, erschossen worden. Auf Anordnung des Präsidiums des Gebietes Omsk vom 29. O1. 58, auf den Protest des Gebietsstaatsanwalts hin, ist die Anordnung der Troika aufgehoben worden und der Strafprozess eingestellt, da keine Straftat vorlag. Die Bescheinigung über die Rehabilitierung können Sie beim Versorgungsdienst erhalten.

Der Bürovorsteher des Staatsanwalts für das Gebiet Omsk Justizrat J. I. Simonow

 

Dieses Schreiben benötigt wahrhaftig keinen Kommentar, der Inhalt der nüchternen Zeilen spricht für sich selbst. Was jedoch gesagt werden muss – Johann Hetterle wurde bereits 1958 rehabilitiert, aber die Familie zu benachrichtigen, hielt man anscheinend für überflüssig.


Nachzulesen, allerdings auf Russisch, auf dieser Seite:

Links zu Namens-Eintragungen in Memorial-Büchern:


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