In dieser überarbeiteten Fassung sind zwei meiner früheren Blogartikel vereint: „Ein Ort zum Innehalten“ und „Zwei Orte – zwei Charaktere“. Ich finde, sie gehören zusammen, handelt es sich doch um meine Vorfahren. Die Geschichte ist ebenso im Almanach 2022 der Deutschen aus UdSSR-Nachfolgestaaten enthalten („Hier war ich, dort bin ich“).
* * *
„So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen“, sagte ich zu meiner Frau am zweiten Tag unseres Aufenthaltes in Bad Sooden-Allendorf und versuchte dabei vergebens die Feuchtigkeit aus den Augen
wegzublinzeln.
„Ich aber auch nicht!“, antwortete sie und fügte nachdenklich hinzu: „Warum nur sind sie von hier weggegangen?“
Eine rhetorische Frage. Denn sicher hatten sie ihre Gründe – die Vorfahren meines Vaters und daher die meinen – als sie im 19. Jahrhundert der Einladung der Zarin Katharina II. gefolgt waren und in die weite Ferne, in eine völlig fremde Welt auswanderten. Sie nahmen alle Strapazen der langen, beschwerlichen Reise auf sich, in der Hoffnung, auf dem versprochenen Land ein neues, glücklicheres Leben für sich und ihre Nachkommen aufzubauen. Sie konnten nicht ahnen, in was für einen schrecklichen Strudel der Ereignisse ihre Enkelkinder und deren Kinder geraten würden.
Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf in diesen drei Tagen und noch mehr Gefühle durch das Herz. Oft hatte ich einen dicken Kloß im Hals und musste mit den Tränen kämpfen.
Wie waren sie – meine Ur-Ur-Urgroßeltern? Welche Berufe übten sie aus? Welches dieser Häuser war ihr Zuhause? Vielleicht haben sie es sogar selbst gebaut? Nicht umsonst war doch auch mein Vater handwerklich so begabt. Was bewog sie, ihre Heimat für immer zu verlassen? Diese Fragen kann mir leider keiner mehr beantworten.
Dank der Ahnenforschung meiner Nichte weiß ich dennoch, dass die Familie meines Urgroßvaters Philipp Schütz in Russland einige Zeit lang im Gebiet Taganrog gelebt hatte. Sie war unter den zehn deutschen Familien, die sich dann 1908 aufmachten, um neue Ländereien zu erwerben. Der Weg führte sie bis nach Sibirien. Dort hatten sie Glück und fanden im Gebiet Omsk eine neue Bleibe. Häuser wurden gebaut, Land bewirtschaftet. Die Siedlung, die sie nach ihrem Heimatort in Taganrog Schönfeld nannten, wurde immer größer und blühender. Mit Zuversicht blickten die Menschen in die Zukunft. Mit der Zukunft, die schon bald zu ihrer Gegenwart werden würde, hatte jedoch keiner von ihnen gerechnet.
Großvater Jakob Schütz – den Sohn von Philipp – habe ich nicht kennenlernen dürfen. Er kam 1917 im Ersten Weltkrieg ums Leben. Da war er erst 24 Jahre alt, hinterließ seine Frau Lydia und zwei kleine Söhne; der Jüngste, ebenso mit dem Namen Jakob getauft, war mein Vater.
Seitdem sind mehr als hundert Jahre vergangen. Zu schildern, was alles in dieser Zeit geschah, würde gewiss den Rahmen dieser kurzen Erzählung sprengen. In Gedanken jedoch bin ich immer wieder mittendrin, stelle mir meine Großeltern und Eltern vor, fühle und leide mit ihnen.
Das Schicksal meiner Eltern kenne ich, weiß, was ihnen alles widerfuhr, wie viel sie zu ertragen hatten. Mein Vater konnte wenigstens die letzten vierzehn Jahre seines Lebens noch in Ruhe und Frieden in Deutschland genießen. Er starb 2006 im Alter von 91 Jahren.
So ging ich, größtenteils schweigend, durch die Straßen der kleinen nordhessischen Stadt, und mir war so, als ob ich den Spuren meiner Ahnen folgen würde …
Heute ist Bad Sooden-Allendorf ein idyllischer Ort, ein Ort zum Verweilen, zum Innehalten und zum Bestaunen. Die vielen Fachwerkhäuser sind gut erhalten und sehen richtig märchenhaft aus. Kein Gebäude gleicht dem anderen. Fast vor jedem der Häuser steht eine Bank, auf die man sich niedersetzen kann, vielleicht um sich etwas auszuruhen oder auch nur, um die vorbeiziehenden Passanten zu beobachten.
Der helle, melodische, fast verspielte Klang der Kirchglocken machte die Stadt noch lebendiger und harmonierte so wunderbar mit meiner inneren Stimmung.
Wir – Dagmar und ich – beschlossen, dass wir wieder hierherkommen würden, dann aber für längere Zeit, um uns noch einmal alle Sehenswürdigkeiten ansehen und die Museen besuchen zu können. Zunächst aber stand uns noch eine nicht weniger aufregende Reise bevor – an einen anderen Ort, an den Ort, aus dem die Vorfahren meiner Mutter stammen. Wie wird er auf mich wirken, welche Emotionen in mir auslösen?
Es war still in Kirchheimbolanden, einer alten Stadt im Südosten von Rheinland-Pfalz, still und fast menschenleer.
Ich dachte an meine Mutter, stellte mir vor, sie würde jetzt hier die Straßen entlanggehen und spürte ihre Traurigkeit, ihre Wehmut, ihren Schmerz. Mir war so, als ob ihr Geist durch meine Augen die Umgebung wahrnahm – ein gequälter Geist, der sich an nichts erfreuen konnte, der nur die Schatten des Lebens sah. Dann hörte ich die Glocken läuten und eine Gänsehaut überzog mich – schwer, dunkel, nachhallend war ihr Ton, so als würden sie meinen Gedanken zustimmen, mit mir fühlen.
Bad Sooden-Allendorf und Kirchheimbolanden … Zwei Orte, die unterschiedlicher nicht sein können – in Bezug auf die Empfindungen, die sie in mir erzeugten.
Mein Vater und meine Mutter … sie waren ebenso grundverschieden. Vater – optimistisch, bodenständig, lebensfroh, ganz gleich, wie schwer er es hatte, wie hart er auch arbeiten musste. Er hatte die sieben Jahre in der Trudarmija (Arbeitsarmee) überlebt, auch die spätere Inhaftierung aufgrund falscher Anschuldigungen konnten ihn nicht brechen.
Mutter – müde, depressiv, in sich gekehrt. Auch sie hatte viel Schlimmes ertragen müssen – die Deportation aus der Ukraine nach Sibirien, 1937 die Verhaftung ihres Vaters und Onkels (sie kehrten nie mehr zurück), die Kriegszeit und die Jahre ohne ihren Mann, mit damals drei kleinen Kindern. Vier werden noch hinzukommen; ich bin die Vorletzte von insgesamt sieben. Unter diesen Lasten zerbrach meine Mutter immer mehr. Wie viele Nächte lag sie wohl wach, über all‘ das grübelnd, was zu ihrem Dasein gehörte, aber so gar nicht ihren Träumen und Wünschen entsprach? Ich denke, sie sehnte sich sogar nach dem Tod, und der holte sie früh; sie war erst 58 Jahre alt, als sie im August 1971 starb.
Zwei Jahrzehnte werden noch vorüberziehen, bis ihre Kinder, eins nach dem anderen, die Entscheidung trafen und die Möglichkeit bekamen, in die Heimat ihrer Vorfahren einzuwandern. Meine Mutter hatte es nicht mehr erleben dürfen. Das macht mich unendlich traurig. Ob sie überhaupt eine Vorstellung von Deutschland, von dem Leben dort, von einem anderen Wertesystem hatte?
Ja, sosehr mich der eine Ort aufgewühlt und verzaubert hat, so sehr bedrückte mich der andere.
Doch es war gut, diese zwei so unterschiedlichen Städte zu besuchen, durch die Straßen zu laufen, an meine Eltern zu denken und mir noch einmal bewusst zu werden, dass sie trotz aller Leiden nicht umsonst gelebt haben. Sie haben einen großen Teil zum Wohlergehen ihrer Kinder beigetragen, haben ihnen ermöglicht, zu ihren Wurzeln zurückzufinden.
Mehr als 30 Jahre lebe ich schon in einem schönen, sicheren, freien Land. Ich bin dort angekommen, wo alles seinen Lauf nahm. Der Kreis hat sich geschlossen. Das habe ich in den beiden Ursprungsorten meiner Familie deutlich gespürt.
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