"In der sibirischen Kälte" - Ausschnitte


Scherben

Mit meiner Cousine
Mit meiner Cousine

... Ich weiß nicht, woher das kam – Scherben sammeln, wer damit überhaupt angefangen hatte. Es war einfach schon immer so: Mädchen und ihre Scherbensammlungen. Die Jungs schauten auf sie von oben herab, aber insgeheim waren sie doch sehr neugierig und manchmal auch neidisch. Man musste sein Töpfchen mit den Scherben gut hüten und verstecken, um vor ihren langen Fingern sicher zu sein.
Was waren das denn für Scherben? Die Antwort ist einfach – kleine Porzellan- oder Tonscherben verschiedener Größe. Und was war daran so aufregend?
Ich hole mal in Gedanken mein Eimerchen hervor und breite die Schätze auf dem Tisch der Erinnerung aus. Für meine Augen ist es die reinste Pracht.
Bescheidener wirken natürlich die weißen Teile, es sei denn, sie besitzen eine außergewöhnliche Form. Mein Blick haftet auch nicht allzu lange an den einfachen, mit einem oder zwei farbigen Streifen verzierten Stücken, sondern verweilt liebevoll bei den schönsten, aufregendsten Exemplaren.
Da sind ein paar Scherben mit den hübsch geschwungenen Teilen eines Blumenornaments … Wie mag wohl das Gefäß, zu dem sie einmal gehörten, ausgesehen haben? …
Dies ist ein kostbares Stück mit vollständig erhaltener exotischer Blume; dies eins mit einer halben menschlichen Figur, so seltsam, so fremd – das heil gebliebene Auge gleicht einem Schlitz, die Kleidung – wo trägt man denn so etwas? Ich überlege, wer im Dorf einen solchen Teller oder eine derartige Tasse besessen haben könnte und komme zu dem Schluss, dass die Scherbe gar nicht aus unserem Dorf stammen kann … Unmöglich! Aber woher dann? Und schon ist meine Fantasie in Gang gesetzt …
Bemerkenswert ist auch, wie man so eine Sammlung zusammenbekam. Wie erwähnt, spielten wir Kinder oft auf Baustellen, wo immer eine Scherbe zu finden war. So gefährlich, wie heutzutage in der Stadt, waren diese Orte damals nicht. Da stand höchstens ein einfacher Bagger. Aufregend war es, in die Fundamentgruben hinun-terzusteigen oder zwischen den Holz- und Ziegelstapeln wie in einem Labyrinth umherzuirren. Und dabei hielt man auch die Augen offen, jederzeit für eine spannende Scherbenentdeckung bereit.

Die kleine Rosa hatte ihre eigene geheime Quelle – das Kartoffel- und Gemüsefeld hinter dem Haus.

Ich wusste, dass man da die wertvollsten Stücke finden konnte. Wie ich zu dieser Überzeugung kam? Ich denke, es lag daran, dass ich beim Unkrauthacken oder während der Kartoffelernte gelegentlich einige Scherben entdeckt hatte. Oder es war die Idee, dass Scherben auch vom Himmel fallen können – als Teile des Tellers eines Außerirdischen. Wer weiß schon, was sich ein Kinderhirn zusammenreimt?

Wegen der großen Schneemassen setzte der Frühling in Sibirien stets langsam ein, verlief dann umso heftiger. Am schnellsten verschwand der Schnee auf dem Kartoffelacker. Darauf wartete ich schon sehnsüchtig, um mit meinen Feldforschungen loszulegen.

So war es auch in jenem Frühling 1960, als ich sechs Jahre alt war. Ja, ich hatte meine Bedenken – das gebe ich zu – aber die Erde sah so schwarz, so trocken, so verlockend aus. Kein Fleckchen Schnee mehr, keine Wasserpfützen. Ich traute mich, und anfangs ging auch alles gut – fast bis zur Mitte des Feldes. Dann spürte ich plötzlich, wie meine Beine immer schwerer wurden und ehe ich mich versah, steckte ich fest. Ich erstarrte vor Schreck, aber der Boden gab mehr und mehr nach. Ich versuchte, ein Bein aus dem Erdreich herauszuziehen. Es gelang mir, allerdings ohne den Gummistiefel – der wollte nicht mit.

Was sollte ich tun? Ich sah mich um – kein Mensch zu sehen. Ich war ganz allein. Mitten im Sumpf! Mich überkam die nackte Panik. Die Vorstellung, in der feuchten Erde zu versinken, war grauenhaft. Ich steckte mein Bein zurück in den Stiefel … und fing an zu schreien ...


Zwischen zwei Welten

Seltsamerweise erinnere ich mich nicht an meine Einschulung. Ich kann mir zwar vorstellen, wie der Ablauf gewesen sein muss, habe aber im Kopf kein Bild von mir selbst. Meine Eltern begleiteten mich nicht – so viel weiß ich. Vermutlich ging ich am ersten Tag mit meinem älteren Bruder zur Schule, der schon in der dritten Klasse war, und hatte einen Strauß Blumen dabei – für die Lehrerin. So etwas wie Schultüten gab es nicht. Es wäre auch sonderbar, wenn ich erzählte, ich hätte irgendwelche Geschenke bekommen – nein, die gab es auch nicht.

Wie dem auch sei, die Schule öffnete mir das Tor in eine wundervolle andere Welt, eine, in der es interessant war, in der es Neues zu entdecken gab, in der ich Spaß hatte und mich wohlfühlte. Ich war sofort von diesem Reich angetan, vom Lernen, von den Büchern, von meiner ersten Lehrerin – Galina Nikolajewna.

Obwohl ich ein stilles und schüchternes Kind war, dazu noch mit depressiver Veranlagung, sehnte ich mich nach dem Miteinander. Ich brauchte andere Menschen und deren Anerkennung. Heute verstehe ich das – ich wollte entfliehen – der Trostlosigkeit, der Kälte, den Verboten des Elternhauses, vor allem aber meinen schlimmen Erlebnissen, die ich wohl schon zu Anfang der Schulzeit völlig verdrängt hatte.

Ja, ich wollte so weit wie möglich weg – in eine andere, bessere Welt. Und da war sie, die andere Welt – ganz nah. Sie stand in krassem Gegensatz zu dem, was ich von zu Hause kannte, und somit geriet ich gleich anfangs in einen Konflikt. Ich musste mich entscheiden – entweder für eine Welt mit Bibel oder für eine ohne Bibel. Zwei Gesichter zeigen, wie viele es taten, lag nicht in meiner Natur.

Ich war mir sicher, dass Gott nicht existiert. Diese Gewissheit war zwar intuitiv, aber doch sehr früh entstanden als das logische Produkt meiner Erfahrung: Bete so viel du willst, Gott hilft nicht, also gibt es ihn auch nirgendwo. Das deckte sich auch mit dem, was uns in der Schule erzählt wurde. In meiner neuen Welt gab es keinen Himmel und keine Hölle, ich musste nicht beten und die Bibel lesen. Im Gegenteil, es war verboten, Gott zu verehren, und das, was zu Hause als Sünde galt, war in der Schule erwünscht und erlaubt – nämlich Bücher lesen, Fernsehen, ins Kino gehen und tanzen. Weil mir diese Welt so gut gefiel, war ich auch überzeugt, dass alles in ihr richtig ist, dass Kommunisten die Besten und Vorbilder für die gesamte Menschheit sind. Ja gewiss, ich ahnte, dass meine Eltern diese Ansichten nicht teilten, aber sie hatten uns Kindern nicht erklärt, warum; sie hatten nie über die Vergangenheit und das, was sie erleiden mussten, gesprochen … ein großes, ein schwieriges Thema. Und es ist auch gar nicht meine Absicht, mich darin zu vertiefen. Ich will nur das Widersprüchliche verständlich machen, mit dem ich als junger Mensch zurechtkommen musste.

Es ist ja nicht so, dass ich dachte, meine Eltern seien bösartig oder falsch oder ungebildet, weil sie an Gott glaubten. Ich verstand schon, dass sie nicht anders konnten, dass sie mit der Existenz Gottes viel Hoffnung verbanden. Sie glaubten an ihn, weil sie überzeugt waren, dass es ihn gibt und er ihnen beistand. Ich glaubte nicht an Gott, weil ich überzeugt war, dass es ihn nicht gibt. Mir war bewusst, dass keine der beiden Seiten das Gegenteil jemals würde beweisen können.

Die Lehrer mochten das stille, fleißige, oft in Gedanken versunkene Mädchen Rosa. Warum auch nicht? Ich war gut im Lernen, mein erster Aufsatz zeigte, dass in mir sogar literarische Fähigkeiten steckten. Es wunderte mich allerdings schon damals, warum ich die Einzige in der Schule war, die gut schreiben konnte, denn ich ahnte – ein so großes Talent dafür besaß ich nun auch wieder nicht. War es vielleicht so, dass die anderen Schüler im Schreiben nicht frei waren, in Stereotypen dachten, sich zu sehr an die Aufgabe, an das Thema klammerten, während ich von Anfang an meine eigenen Gefühle und Gedanken in die Texte einbrachte?

Da ich viel las, wodurch mein Wortschatz immer umfangreicher wurde, und weil ich ein gutes Gespür für einen harmonisch fließenden Text hatte, gelang es mir mühelos, aus meiner Arbeit ein kleines über die Leistungen der anderen ragendes Kunstwerk zu gestalten – zur Freude und Begeisterung meiner Lehrer. Ich glaube, auch die Rechtschreibung war ein Baustein meiner vorgeburtlich angelegten Fähigkeiten, denn Schreibfehler machte ich in der russischen Sprache nie.

Jetzt ist es an der Zeit, zu dem zu kommen, was ich in dieser Geschichte eigentlich erzählen will – zu meiner großen Dummheit, die ich in der dritten Klasse beging ...


Mein Universum

... Ich trete vorsichtig in einen dunklen, kühlen, weiten Raum ein und bevor ich mich richtig umsehen kann, bin ich eins mit der Gestalt, die sich dort befindet. Es erschreckt mich nicht, denn ich weiß sofort – diese Gestalt bin ich selbst, ich vor vielen Jahren.

Mich umgibt eine Sommernacht. Sie ist still, so still, dass ich fast glaube – es gibt nichts mehr, außer dieser Stille und Dunkelheit. Die ganze Welt scheint im tiefen Schlaf versunken zu sein, nur ein schwaches Rauschen und Rascheln ist hin und wieder zu hören. Wie so oft sitze ich vor dem Gartenzaun auf einer kleinen Holzbank, atme die frische Luft ein und lausche den geheimnisvollen Geräuschen. Ist es der Wind, der mit den Blättern des alten Ahornbaumes spielt? Oder ist es eine Katze auf ihrem nächtlichen Spaziergang? Ich bin allein, fürchte mich vor nichts, außer vielleicht vor mir selbst, und ich bin fünfzehn Jahre alt.

Wie merkwürdig nachts alles aussieht! Die schönen Farben, die vor ein paar Stunden noch die Welt beherrschten, sind verschwunden. Die Schwärze hat sie vertrieben und übt nun ihre unbegrenzte Macht aus.

Ich schicke meinen Blick zu den Sternen, die über mir leuchten, und erkenne viele der geflüchteten Farben wieder. Gold und Orange, Blau und Silber gehören jetzt zum Sternenreich und funkeln herab wie kleine Edelsteine. Die Sterne. Wie faszinierend sind sie! Stundenlang könnte ich sie betrachten. Manchmal verbinde ich sie miteinander und male mir ganz besondere Figuren aus – meine eigenen Sternkreise, erschaffe mir mein eigenes Universum. So entdecke ich in dieser Nacht in der entferntesten Ecke des Himmels einen kleinen Stern, der besonders fröhlich – in allen Regenbogenfarben schillernd – zu mir herunterblickt. Und ich denke – wenn ich, wie meine beste Freundin schon immer behauptete, nicht von dieser Welt bin, dann komme ich bestimmt von diesem schönen Stern, der mir jetzt aus der unglaublichen Ferne seine Aufmerksamkeit schenkt.

Meine Gedanken, die am Tag noch so schwer und trüb und hoffnungslos waren, verändern sich auf wundersame Weise. In der Dunkelheit unter dem Sternenglanz werden sie immer heller und leichter, als zögen die Strahlen alle Schwärze und Schwere aus ihnen heraus und lösten sie auf. Verblüfft entdecke ich darunter einen verborgenen Schatz – eine wunderbare Idee, die mir so sehr fehlt. Wahrscheinlich war sie immer schon da, nur konnte ich sie unter der erdrückenden Last nicht sehen und nicht fühlen. Jetzt, befreit und ins helle Licht gesetzt, glänzt sie in all ihrer Pracht. Könnte das nicht die schon lange von mir gesuchte Lösung für mein ganzes Leben, sein? Eben noch so einsam und verloren, fühle ich mich jetzt wie vereint mit der ganzen Welt. Ich weiß – ich bin ein Teil dieser seltsamen, ewigen Unendlichkeit, mein Leben ist perfekt gefügt, um dazuzugehören – für immer. Diese einzigartige, besondere Gewissheit, die ich als Kind besaß, die sich mit zunehmendem Alter leider verflüchtigt hatte, kehrt zu mir zurück. Plötzlich bin ich wieder überzeugt, dass ich unsterblich bin. Sterben? Ich? Niemals! Wie soll das denn gehen? Wie soll denn diese ganze Welt – mein Universum, mein Fühlen, mein Denken – einfach verschwinden?

Ich stelle mir vor, wie die Menschen reagieren werden, falls ich ihnen meine Gedanken offenbare, wie sie sich wundern werden: ’Hast du seltsame Ideen!’ Nun – warum nicht? Schließlich bin ich ja auch nicht von dieser Welt ...

In Wirklichkeit weiß ich jedoch, dass ich niemandem davon erzählen werde, dafür bin ich viel zu schüchtern. Allein meinem alten treuen Freund – meinem Tagebuch – werde ich es anvertrauen. Ich verspüre den Drang, es sofort zu tun, um möglichst genau festzuhalten, was in meinem Kopf herumschwirrt und sich schon fast zu einer Geschichte verdichtet hat, verspüre das Bedürfnis, die Gefühle, die mein Herz überströmen, in Worte zu fassen. Aber das ist nicht möglich, ich darf niemanden im Haus wecken. Also beschließe ich, das Schreiben auf morgen zu verschieben und selbst auch schlafen zu gehen.

Ich schaue zum Himmel auf, um meinem Stern einen letzten Gruß zu schicken und stelle fest, dass er verschwunden ist. Doch es bedrückt mich nicht, denn ich bin sicher – er und ich sehen uns bald wieder.

Leise verlasse ich das Mädchen von einst, verlasse den dunklen Raum, in dem es sitzt und träumt, verschließe dennoch nicht die Tür. Irgendwann werde ich bestimmt zurückkehren und sie öffnen wollen, um erneut in meiner Vergangenheit zu verweilen, in einem ihrer schönsten Momente ...

In diesem Hof spielte ich als Kind und auf der kleinen Holzbank saß ich oft im Schatten des alten Ahornbaumes und dachte nach – über Gott und die Welt und über mich selbst.

In diesem Hof spielte ich als Kind und auf der kleinen Holzbank saß ich oft im Schatten des alten Ahornbaumes und dachte nach – über Gott und die Welt und über mich selbst.

Das Foto ist 2003 enstanden, als ich meine Heimat einmal besucht hatte. Es sieht alles ungepflegt, fast verfallen aus, aber die Bank ist noch zu erkennen und der Ahornbaum ist auch noch da.


In der sibirischen Kälte

... Mamas Leichnam wurde zu Hause aufgebahrt, wie das so üblich war, und mit Eisbrocken umlegt. (Für diese Fälle und andere Notwendigkeiten gab es im Dorf einen Eisberg, im Winter hergestellt und im Sommer sorgfältig mit einem dicken Strohmantel bedeckt). Es war ebenso üblich, dass die Trauerfeier frühestens am dritten Tag nach dem Tod stattfand. Da es weder eine Kapelle noch eine Leichenhalle gab, mussten die Angehörigen bis dahin quasi mit dem Aufgebahrten unter einem Dach leben.

Nachts überkam mich Angst. Meine beste Freundin Frida gab mir Unterstützung, indem sie bei mir schlief. Tagsüber war ich meist abgelenkt, denn es gab viel zu tun. Menschen kamen und gingen – Familienmitglieder und Verwandte hielten abwechselnd die Totenwache.

Einmal war ich jedoch ganz allein zu Hause und mit Putzarbeiten beschäftigt. Auch im Zimmer, in dem der Sarg stand, musste der Boden gewischt werden. Ich fühlte mich sehr unwohl. Es war so kalt, so unheimlich still im Raum. Ich schaute meiner Mutter ins Gesicht und stellte mir plötzlich vor, dass sie die Augen öffnete …

Ob ich meine Arbeit noch zu Ende brachte, weiß ich nicht mehr, nur, dass ich nach draußen flüchtete, wo es warm war, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten.

Wie gern hätte ich in diesen Tagen die Nähe meines Freundes gespürt, aber ich wusste – er war gerade bei seinen Eltern in Omsk und es gab keine Möglichkeit, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Dennoch meinte es das Schicksal am Tag der Beerdigung gut mit mir. Ich sah auf einmal, wie er von der Straße in den Hof einbog, zögernd und besorgt angesichts der vielen Menschen. Er ahnte ja nicht, dass er mitten in eine Trauerfeier hineingeriet. Ich war sehr froh über seine Anwesenheit und ließ ihn nicht mehr von meiner Seite.

Als alles vorbei war, wollte ich unbedingt weg; weg vom Friedhofsgeruch, von meinen Geschwistern, von meinem Vater. Shenja und ich gingen aus dem Dorf in den nahen Wald. Ich empfand plötzlich eine enorme Erleichterung, sogar ein Glücksgefühl: Ich war frei! Frei für mein eigenes Leben, frei für die Zukunft, die ich von nun an selbst gestalten konnte. Gleichzeitig entsetzte mich, was ich fühlte. Wie kann ich nur so denken, wo Mama gerade erst begraben worden war! Ich musste doch traurig sein, sie vermissen! Ich weinte.

Es war das erste Mal, dass ich so hemmungslos vor einem anderen Menschen weinte. Alles brach aus mir heraus, die Anspannung der letzten Tage, die Verzweiflung, die Schuldgefühle. Mein Freund redete mir gut zu, dass es normal sei, wenn ich mich nach der Beerdigung erleichtert und sogar glücklich fühle, dass ich diese Gefühle zulassen dürfe, dass ich noch viel Zeit hätte, um zu trauern, dass mich überhaupt keine Schuld träfe. Sieben Jahre älter als ich, war er ein feinfühliger und kluger Mann und seine Worte hatten die Überzeugungskraft, die mich auf magische Weise beruhigte.

Ein Gewitter zog auf. Wir merkten es erst, als es anfing zu donnern. Unter den Birken fanden wir keinen Schutz und wurden völlig durchnässt. Aber der Regen tat mir gut. Er war wie ein erfrischender Zusatz zu meinen bitteren Tränen. Wie ein Abschluss. Es stimmte – ich hatte noch genug Zeit für die Trauer und für Schuldgefühle.

Ich frage mich heute – was bin ich meiner Mutter schuldig geblieben?

Die erste Zeit nach ihrem Tod quälten mich die Gedanken, dass ich nicht genug für sie getan hätte, dass ich es mir, als sie krank war – fern von ihr – hatte gut gehen lassen; dass ich sie zu wenig im Krankenhaus besucht hatte (sie weinte fast die ganze Zeit über und ich konnte das nicht ertragen). Im reiferen Alter machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht versucht hatte, mit meiner Mutter zu reden, sie zu verstehen, Anteil an ihren Gedanken und Sorgen zu nehmen.

Als mein Leben sich so drastisch wandelte, fragte ich mich oft, wie meine Mutter darauf reagiert hätte. Mir wurde schon einmal gesagt, dass sie sich im Grabe umdrehte, wüsste sie, welche Schande ich über die Familie bringe.

Im letzten Sommer hatte ich eine Phase, in der ich mich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigte. Wie so oft, verfolgten mich meine Gedanken auch im Schlaf weiter. Und in einem Traum widerfuhr mir etwas ganz Besonderes: Meine Mutter und ich begegneten einander. Obwohl mir klar war – sie ist tot, war ich gleichzeitig sicher, dass sie gekommen ist, um sich mit mir auszusprechen. Nie zuvor hatte ich in der Realität ein so tiefes, warmes, schönes Gefühl der Nähe und Geborgenheit gespürt. Als ich aufwachte, hätte ich nicht wiedergeben können, was sie mir erzählte. Ich wusste nur, es war bewegend, und auch ich vertraute meiner Mutter alles an, was mir auf dem Herzen lag – alles. Das Wundervollste war – sie fühlte mit mir, sie verstand mich, nahm mich an, wie ich war. Dann tat sie etwas ganz Unerwartetes, was sie zu Lebzeiten nie über sich gebracht hatte … sie schloss mich in ihre Arme. Wir weinten beide und mit einem Mal wusste ich – Mama hat mich geliebt, immer. Sie hat uns alle geliebt. Alle sieben.

 

Februar 2012

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Kommentare: 2
  • #1

    Beate Haack (Dienstag, 14 März 2017 18:14)

    Diese Zeilen nehmen einen sofort mit auf deine Zeit-Reise.... sehr gut geschrieben,fesselnd,spannend und so real,als würde man dabeisein,alles miterleben ....so mittendrin....als Zuschauer... dieses Buch steht nun auf meiner“ Wunschliste-Wunschzettel“ ganz oben !!!!

  • #2

    Petra Weise (Montag, 10 April 2017 16:44)

    Diese Leseproben haben mich überzeugt, das Buch zu kaufen. Ich bin schon sehr gespannt auf die gesamte Geschichte.