Meine Eltern haben allen ihren Kindern deutsche (viel mehr altdeutsche) Namen gegeben: Lilli (oder Lilia), Ewald, Aneta, Ida, Jakob, Rosa, Erna. Wie man unschwer erkennen kann, bin ich die Vorletzte in dieser Reihe.
Ich bin nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause geboren worden, zu welcher Tageszeit, ist mir zwar nicht bekannt, aber ich weiß, dass Tante Rosa (Mamas älteste Schwester) die Geburt begleitet und sich die ersten Tage um Mutter und Kind gekümmert hat. So bin ich auch zu dem Namen Rosa gekommen.
Gern möchte ich etwas ausführlicher über diesen – nicht nur für damalige Zeiten – außergewöhnlichen Menschen erzählen.
Tante Rosa wurde 1933 mit der Familie, zu der natürlich auch meine Mutter gehörte, aus der Ukraine nach Sibirien vertrieben, und fand ebenso eine Bleibe in Schönfeld, einer deutschen Siedlung. Sie war eine wissbegierige Frau, las (nach Möglichkeiten) viel und interessierte sich besonders für Medizin. Für jedes Leiden hatte sie ein passendes Mittel oder einen nützlichen Rat. Oft nahm sie mich mit zum Kräutersammeln. Die getrockneten Kräuter wurden dann von ihr gegen allerlei – nicht nur eigenen – Krankheiten verwendet. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mit ihr Kamillenblüten pflückte, und an den Duft des daraus gebrauten Tees. Heute würde man sie vielleicht als Heilpraktikerin bezeichnen. Im Mittelalter wäre sie allerdings als Hexe verfolgt worden und landete womöglich auf dem Scheiterhaufen.
Tante Rosa war meiner Kenntnis nach ziemlich eigensinnig, was das Leben ihrer zwei Kinder sicher nicht leicht machte. Aber auch in anderen Dingen zeigte sie ihren Charakter. Wie die meisten Menschen im Dorf war sie Mitglied der Baptisten-Gemeinde. Da sie deren Regeln und Verbote missachtete, wurde sie mehrmals ermahnt und schließlich als sozusagen Wiederholungs-Täterin aus der Gemeinde ausgeschlossen. Ihr Verstoß (unter einigen anderen) – sie sah fern …
In den 60-er Jahren waren Fernseher noch rar in den sibirischen Dörfern. Tantes Sohn besaß als Erster eines dieser Wundergeräte, das sie sehr faszinierend fand. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und ging regelmäßig zu ihm ins Haus nebenan, um sich alles Mögliche anzuschauen. Doch das durfte sie nicht, da der Fernseher bei den Baptisten als eine Erfindung des Bösen galt.
Es gibt da eine kleine Anekdote, die mir meine Schwester Aneta erzählt hat. Eines Winterabends hörte unsere Tante, wie draußen die Nachbarin aufgeregt rief: „Seht, seht nur zum Himmel, da ist es – das Zeichen Gottes!“. Tante Rosa ging hinaus, schaute nach oben und sagte ganz gelassen: „Das ist kein Zeichen Gottes, das ist ein Polarlicht.“
Ich hatte meine Tante gern. Bloß eins mochte ich nicht – bei ihr übernachten. Sie wohnte zusammen mit ihrer Tochter, und musste, wenn diese manchmal abwesend war, die Nacht allein verbringen. Davor fürchtete sie sich und bat mich, bei ihr zu schlafen.
Eine dieser Übernachtungen habe ich noch lebhaft in Erinnerung.
Das Bett, in dem ich schlief, genauer gesagt, schlafen sollte, stand Tantes Bett gegenüber. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, lag hellwach da und lauschte den Geräuschen – Tantes
gelegentlichem Schnarchen, dem unheimlichen Knacken in den Wänden, den Tierlauten aus dem Stall. Zusätzlich hatte ich ununterbrochen den äußerst unangenehmen, chemischen Geruch der neuen,
wattierten Matratze in der Nase. Ich war vielleicht neun Jahre alt und das alles war eine Qual für mich. Als ich endlich hörte, wie die ersten Vögel den Morgen begrüßten und sah, dass es
allmählich hell draußen wurde, stand ich leise auf, zog mich an und … weg war ich. Unser Haus befand sich in der gleichen Straße und ich hatte es im Nu erreicht, erleichtert die morgendliche,
frische Luft einatmend und froh, wieder frei zu sein. Mein eigenes Bett, auch wenn ich es mit der drei Jahre jüngeren Erna teilte, war mir viel lieber.
Ich glaube, das war auch die letzte ‚Wache‘ bei Tante Rosa. Als ich das nächste Mal wieder dran war, hatte ich mich einfach versteckt und ließ mich erst dann wieder blicken, als Tante schon gegangen war. Meine Mutter schimpfte, aber sie schickte mich glücklicherweise nicht ihrer Schwester hinterher.
Tante Rosa starb vor vielen Jahren (noch in Russland) an Brustkrebs. Dagegen waren ihre Kräuter- und Medizinkenntnisse dann doch machtlos.
Im Geiste sehe ich sie vor mir – klein, flink, mit einer schwarzen Klappe über dem rechten Auge, die sie im Alltag trug. Dabei besaß sie auch ein Glasauge, setzte es aber ungern ein und nur bei besonderen Anlässen – dazu gehörte natürlich auch die eigene Hochzeit (Bild unten). Sie verlor ihr echtes Auge schon als Kind, als sie unerlaubterweise mit der Schere spielte. Tja, da fing es wohl schon an – das mit dem „Regeln nicht beachten“.
Jetzt, beim Schreiben dieser Geschichte, wird mir schmerzlich bewusst, wie wenig ich über meine Tante weiß. Es war damals nicht üblich, sich mit Kindern auf Augenhöhe zu unterhalten, überhaupt aus dem früheren Leben zu erzählen. Dazu reichten die Zeit, die Kraft und auch die Bereitwilligkeit der Erwachsenen nicht. Sogar das Geburtsdatum meiner Tante kenne ich nicht. In unserer Familie wurden die Geburtstage der Mitglieder nicht sonderlich beachtet und schon gar nicht die der Verwandtschaft. Ihren Mann Emanuel habe ich nie kennengelernt – er wurde 1937 zusammen mit ihrem Vater (meinem Großvater) und anderen Deutschen aus dem Dorf verhaftet und kurz darauf hingerichtet. Wieder geheiratet hatte sie nicht.
So verging ein Leben, ein bemerkenswertes Leben, und hinterließ kaum Spuren. Ich bin mir jedoch sicher, dass Tante Rosa viel zu erzählen gewusst hätte – vorausgesetzt, es hätte damals jemanden interessiert.
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