Vor drei-vier Jahren schrieb mich eine Frau an und bat um meine Meinung zu ihrem Roman-Manuskript. Ich kannte sie nicht, fand aber heraus, dass es unter ihrem Namen schon einige Veröffentlichungen bei ePubli gibt. Die Leseproben brachten mich allerdings zum Kopfschütteln und doch – ich wollte der Autorin nicht absagen. Nach meiner Einwilligung schickte sie mir ihr Werk zu.
Nun stieß ich beim Aufräumen meines Postfaches auf den E-Mail-Austausch von damals und lies ihn mir noch einmal durch. Es ist schon interessant, was manche vermeintliche Autorinnen und Autoren
fabrizieren, in der Überzeugung, sie seien unschlagbar. Klar, ich bin keine Lektorin und mache selbst genug Fehler, aber an gesundem Menschenverstand mangelt es mir nicht (hoffe ich doch).
An der Ausdrucksweise und Grammatik der besagten Autorin hatte ich damals nichts verändert. Das war mir dann doch zu viel Arbeit und die will ich mir auch jetzt, im Nachhinein, nicht mehr antun.
Also bleibt es bei der Originalfassung.
Meine Meinung – Betreff: Manuskript
Liebe O.,
Ihr Manuskript habe ich gelesen und muss ehrlich sagen, dass es auf mich keinen guten Eindruck macht. Die Idee ist vielleicht nicht schlecht, aber an der Umsetzung scheitert es. Sie erwähnten
zwar, es sei eine Rohfassung, jedoch auch die Rohfassung sollte etwas bieten. Das, was sie schreiben, ist an vielen Stellen unglaubwürdig, voller Unstimmigkeiten, falscher Ausdrücke und Fehler
jeglicher Art.
Aus dem Inhalt ist nicht ersichtlich, welcher Glaubensgemeinde die Familie angehört. Sind es Baptisten? Sind es Zeugen Jehovas? Wenn es Baptisten sind, dann ist ihr Handeln ungewöhnlich.
Baptisten sind streng im Glauben, ja. Aber sie mischen sich nicht in Familienangelegenheiten ein und fordern nicht auf, sich von dem eigenen Kind abzuwenden und es nicht zu unterstützen. Auch
wenn es so wäre, spätestens nach der Ausreise hätte das sich ändern müssen. Oder ist die Familie zusammen mit der ganzen Gemeinde nach Deutschland gegangen? …
Dann wundern mich die Namen: Nora und Marc. Wie kommt man in einer russlanddeutschen Familie in Sibirien der 70er-Jahre zu solchen Namen?
Beispiel der Unstimmigkeiten:
Der erste Arbeitstag war anstrengend. Die Quiecksilbersäule des Thermometers erreichte fast vierzig Grad. Sie stand in der prallen Sonne, die auf sie herab brannte. Sie goß den Menschen die
Getränke in die Plastikbecher, verzweifelt bemüht, sie kühl zu halten. Es gab zwar Kühlschränke, wo man die Getränke lagerte, aber die sahen ziemlich schmuddelig aus. Die Menschen bestellten viel
Trinken, Säfte, Wasser, Apfelschorle. Wie groß war denn ihre Enttäuschung, als sie am Ende des Arbeitstages feststellen musste, dass sie kaum Einnahmen hatte. Das Geld, das sie vom Verkauf hatte,
musste sie ihrem Arbeitgeber abgeben. Es gab eine Absprache, für wieviel sie eine bei ihm die Flaschen nimmt und für wieviel sie die Getränke verkauft. Den Preis nach oben zu treiben, wäre
weniger hilfreich, es war sowieso sehr hoch.
Eine Zeitlang nährte sie die Hoffnung, dass ihre Bemühungen bald Einnahmen bringen würden. Vergeblich; auch am nächsten Tag ging sie wieder fast leer aus. Ihre Verzweiflung stieg. Ein paar junge
Damen, die neben ihr ihre Stände hatten und etwas verkauften, klärten sie auf: „Weißt du nicht, wie es geht? Du musst unbemerkt die Säfte mit Wasser vermischen und die benutzte Becher ausspülen
und sie mehrmals verkaufen …“
Wenn die Menschen viel Trinken, Säfte, Wasser, Apfelschorle bestellten, dann müssten doch die Einnahmen dementsprechend gut sein? Außerdem hat es keinen Sinn, benutzte Plastikbecher
auszuspülen und wiederzuverwenden, denn verkaufen darf man sie eigentlich nicht.
Die schmuddeligen Kühlschränke könnte man auch sauber machen, Hauptsache – sie kühlen.
Außenthermometer enthalten kein Quecksilber.
Nächste Unstimmigkeit:
Umso mehr freuten sie sich, als sie ein Zimmer zur Miete, fast am Rande der Stadt, in einem alten Hochhaus, fanden. Das Zimmer war an Einfachheit nicht zu überbieten: Es gab dort kein fließendes Wasser, keinen Heizungskörper oder Ofen. In einem einzigen kleinen Zimmer stand ein Einzelbett.
Und das in einem Hochhaus in der Großstadt (ich nehme an – in Omsk)? Da gab es sicher keine Wohnungen ohne fließendes Wasser und Heizung. Und warum nahmen sie ihre Möbel nicht mit – etwas davon mussten sie doch im Zimmer bei den Eltern besessen haben?
Der nächste Ausschnitt:
„Zuerst nehmen wir die Musterschnitte und schneiden passende Stücke daraus“, belehrte sie Julia. Sie bereiteten die Schnitte vor und die Vorarbeiterin erklärte Julia weitere Nähschritte. Was man zuerst näht, wie man den Stoff am besten hält, an welche Stellen man die Knöpfe anbringen soll. Unter Anleitung der Vorarbeiterin schaffte sie es, innerhalb von drei Tagen ihre erste Jacke bereitzustellen. So manche Naht musste sie immer wieder auftrennen und von vorne anfangen. Aber sie perfektionierte sich weiter, und später gelang es ihr, innerhalb des Tages eine Jacke anzufertigen. Wie hoch der Verdienst war, lag an der Anzahl der genähten Jacken. Manche Frauen, langjährige Mitarbeiterinnen, schafften an einem Tag drei Jacken zu nähen, doch Julia schaffte zum Schluß nur eine Jacke anzufertigen. Einige Frauen nahmen die Arbeit übers Wochenende mit nach Hause und brachten schon angefertigte Kleidungsstücke zurück, um mehr Geld zu verdienen.
Das ist definitiv falsch! In einer Nähfabrik werden jeder Näherin ihre Aufgaben zugeteilt. Die eine näht den Ärmel zusammen, die andere die Knöpfe an. Keiner muss eine Jacke von Anfang bis zum
Ende fertigen und schon gar nicht darf eine einfache Näherin ein Kleidungsstück zuschneiden, dafür sind gelernte Schneider:innen zuständig. Am Wochenende zu Hause nähen? Eine Jacke? Ist dafür
nicht eine Industrienähmaschine erforderlich?
Bevor man so etwas beschreibt und nicht wirklich weiß, wie es geht, sollte man recherchieren.
Noch ein Ausschnitt:
Julia, ihr Mann und die Eltern durften das Zimmer gemeinsam beziehen, während Nora wie immer auswärts kam. Hier verspürte Nora weiterhin die Kälte, die von der Seite ihren Eltern ausging: in der Gesellschaft den anderen durften sie nicht zeigen, dass sie verwandt sind. Zu unterschiedlich waren ihre Welten, zu sehr wurden die Eltern von den Gemeindemitgliedern überwacht.
Kann ich nicht glauben! Noch einmal: Ist die Familie zusammen mit anderen Gemeindemitgliedern ausgewandert? Oder haben sie sich in so kurzer Zeit einer Gemeinde angeschlossen, die genauso schräg drauf ist?
Die Sache mit der Polizei:
Ein Streifenwagen fuhr sofort los und nahm Adrian mit. Nora ließ ihre blaue Flecken vom Arzt protokollieren, die Arztberichte fügte man zu den Akten und Adrian musste zehn Tage lang von der
Familie isoliert werden und bekam Hausverbot für diesen Zeitraum.
„Was ist danach?“, fragte Nora die Polizisten. „Kommt er dann wieder zu uns?“
„Höchstwahrscheinlich ja. Wir haben keine Gesetze, die ihn länger im Gefängnis einsperren ließen.“
Wie jetzt: ohne Gerichtsverfahren mir nichts – dir nichts für zehn Tage eingesperrt? Das kann nicht sein! Und wenn es ein Gericht gab, dann wäre das Urteil strenger ausgefallen. Wir haben keine Gesetze … – ein Scherz, oder?
Da das Medieninteresse an der Geschichte immer noch groß war und auf der Strasse noch viele Schaulustige lauerten, mussten sie den Ort möglichst unauffällig verlassen. Sie stiegen ins Auto und fuhren los. Sofort nahmen sie wahr, dass zwei Autos ihnen folgten. Marc wandte mehrere Tricks an, um die Verfolger zu irritieren: mal lenkte er nach links und dann sofort nach rechts ab, mal blieb er heimlich in einem industriellen Hof stehen, bis die Verfolgen ihre Spur ganz verloren hatten.
Auch diese Szene ist an den Haaren herbeigezogen.
Liebe O., dies sind nur ein paar Beispiele, die an der Glaubwürdigkeit der Geschichte zweifeln lassen, und es gibt noch einige mehr. Ich habe alle direkt im Manuskript (siehe Anhang)
markiert und kommentiert, die Schreibfehler jedoch erst einmal außer Acht gelassen.
Mein Feedback ist hart, ich weiß, und das tut mir auch leid, aber wenn aus dem Roman etwas werden soll, dann muss der Text gründlich (sehr gründlich!) überarbeitet werden – mit anschließendem
Lektorat und Korrektorat. Ich hoffe, Sie nehmen meine offene Kritik an und sind mir nicht böse.
Rückmeldung der Autorin – Betreff: Feedback
Liebe Frau Ananitschev,
vielen Dank für die Anmerkungen, die ich bestimmt noch einmal ansehen werde, ggf. überarbeiten oder vielleicht ergänzen. Der Feedback ist nicht hart, mir war
interessant, die Reaktion zu lesen. Sicherlich nehme ich davon was mit.
Sie meinen, dass die Geschichte nicht glaubwürdig sei? Dann haben sie bis jetzt noch wenig gesehen. Ich kenne einige Frauen, die in solche Lapalien geraten sind. Und auch diese Geschichte ist
echt.
Es handelt sich um die strenge Adventisten-Gemeinde, jedoch wollte ich es nicht erwähnen. Ich wollte keine Kirche oder Religion im schlechten Licht darstellen. Auch wollte ich nicht zu viel über
die Gemeindemitglieder schreiben, habe schlechtes Gewissen dabei.
Die Namen Nora und Marc sind natürlich ausgedacht. Noras gab es, Mark mit Schreibweise K. ist vielleicht richtig.
Wegen Außenthermometer informiere ich mich noch.
Geschichte mit Getränkeverkauf sollte ich vielleicht etwas besser beschreiben. Es gab genug Chefs, die solche junge Mädchen ausgebeutet hatten. Sie hatte vielleicht nicht von Anfang
ausgerechnet, wie hoch ihr Verdienst war? Die Plastikbecher wurden auch von ihrem Arbeitslohn abgezogen.
Wohnung in einem Hochhaus ohne Heizungskörper ist vielleicht übertrieben. Vielleicht einfach Wohnung in einem privaten Haus. Aber viele Menschen wohnten ohne Wasser, Heizung u. a.
Sachen.
Ich glaube schon der Person, die mir ihre Geschichte erzählte.
Sie erzählte ebenfalls, dass jeder eine ganze Jacke nähen musste und die Frauen nahmen des Öfteren die Jacken mit nach Hause übers Wochenende. Aber ich frage gezielter nach.
Menschen, die Gefahr für die andere darstellen, darf die Polizei sofort mitnehmen. Vielleicht reicht denen eine mündliche Zustimmung des Richters, ich weiß es nicht. Haben Sie selbst in sozialen
Brennpunkten gewohnt? Ich schon. Und habe des Öfteren gesehen, wie die Männer von der Polizei in Gewahr kamen bei Gewalt in der Familie. Für 10 Tage, dann kamen sie wieder zurück. Und auch bei
diesem Vorfall, geschah das so, es gibt sogar ein Nachrichten-Video bei youtube über den Fall.
Julia wohnte in einer privaten Wohnung und wurde von dem Vermieter auf die Strasse gesetzt. Sie war nicht gewohnt, für ihre Rechte zu kämpfen, und sie kannte keine Gesetze in Deutschland. Nicht
jeder hat große Klappe und nicht jeder Vermieter sei gutherzig. Und für eine arbeitslose Mutter mit mehreren Kindern eine Wohnung zu finden, ist nicht immer einfach.
Die Familie fiel durch den Raster aller Sicherheitssystemen durch: die von den Eltern angegebene Adressen werden erst später geprüft, meist nur einmal im Jahr bei der Anmeldestelle. Bis die
Behörden durch die ganze Bürokratie sich durchforsten, fällt es verspätet ein. Ich kenne drei solche Fälle, wo die Kinder ohne richtigen Wohnsitz irgendwo in der Schule angemeldet
waren.
Die Geschichte mit der Flucht war ausgedacht, ja, ich denke nach, ob ich sie rausnehme. Wegen dem Jugendamt, sie sind tatsächlich irgendwann aufgefallen, es gab ein anderer Vorfall. Ich denke
einfach nach, wie ich es ergänze.
Die Geschichte geht irgenwann ins Lektorat, ja, aber die deutsche Lektoren sehen manchmal nicht das, was die russlanddeutsche sehen.
Ich bedanke mich für ihre Anmerkungen und viel Erfolg in ihrer Literaturkarriere!
Liebe Grüße
O. K.
* * *
Nein, O. nahm meine Kritik nicht wirklich an. Ich hatte ihr Buch später bei Amazon entdeckt, nach der Leseprobe zu urteilen, wohl kaum verändert.
Vorhin habe ich aus Neugier noch einmal recherchiert, den gesuchten Titel unter ihrem Namen nicht mehr gefunden (dachte schon, sie hätte die Veröffentlichung rückgängig gemacht), aber dann … Überraschung – es gibt ihn doch, bloß unter anderem Namen und sogar mit einer Fünfsterne-Bewertung (!):
Ksenia (Amazon): Dieses Buch erfüllt, was es verspricht. Ich hatte mich gut unterhaltet gefühlt. Nur das Ende ist unerwartet und unglaublich.
Was soll ich dazu sagen? …
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