Der Deutschsprachkurs, den ich vor 30 Jahren als Aussiedlerin absolviert hatte, war eine wunderbare Zeit. Er ermöglichte den Teilnehmern, nicht nur die Sprache zu erweitern und zu vertiefen, sondern auch das Land und die Leute kennenzulernen, kreativ zu sein. Gelegentlich sollten wir zu dem einen oder anderen Thema auch Aufsätze schreiben. Meine Texte fielen unserer Lehrerin besonders auf und ich erntete immer wieder Lob. Das tat meinem Selbstwertgefühl gut und motivierte mich noch mehr.
Hätte ich damals schon einen Blog geführt, hätte ich bestimmt viel Interessantes und auch Lustiges zu erzählen gehabt. Aber Social Media lag noch weit in der Zukunft.
Doch einen Aufsatz, in der Sprachschule entstanden, kann ich noch vorweisen. Aber ich gebe zu, die peinlichen Rechtschreibfehler habe ich beseitigt, am Inhalt jedoch nur ein paar Kleinigkeiten verändert.
Glut und Kälte
„Die letzte Augustwoche begann für die Streitbaren* etwas ungewöhnlich. Eine Reise nach Dortmund in das Hoesch-Stahlwerk stand uns bevor.
Um Viertel nach acht sollte es mit dem Zug losgehen. Schon eine halbe Stunde vorher war ich am Iserlohner Bahnhof, in der festen Überzeugung – ich würde die Erste sein. Aber nein – Karina K. kam noch vor mir, also musste ich mich mit der Rolle der Zweitplatzierten begnügen. Als Nächstes tauchte das Ehepaar W. auf, dann trudelten die übrigen nach und nach ein.
Aganeta K., die zur Reiseleiterin ernannt wurde, hakte sorgfältig unsere Namen auf ihrer Liste ab und stellte zufrieden fest – die Streitbaren waren vollzählig. Wunderbar!
Wir hatten noch etwas Zeit und da unsere Neugier und Interesse an Deutschland groß waren, fiel uns jede Kleinigkeit auf, die außergewöhnlich war. So sahen wir fasziniert einem torkelnden, vollkommen betrunkenen Mann zu, der ausdrucksstarke Laute von sich gab. Ob er Selbstgespräche führte oder bloß unsere Aufmerksamkeit gewinnen wollte? Letzteres hatte er jedenfalls erreicht. Nicht, dass wir so etwas nicht kannten. Im Gegenteil – zur Genüge. Aber für mich war es der erste Säufer, den ich hier auf der Straße sah. In Omsk gehörte es zur normalsten Sache der Welt, wenn ich schon morgens auf dem Weg zur Arbeit so fünf bis zehn dieser Spezies traf. Abends wimmelte es nur so von ihnen an Geschäften, wo es Bier und Hochprozentiges gab.
Ich merke schon – ich bin etwas vom Reiseziel abgekommen. Also, wo sind wir denn stehen geblieben? Ach ja, wir befinden uns schon auf dem Bahnsteig, und unser Zug fährt gerade ein.
Beim Einsteigen zählte Aganeta noch einmal unsere Köpfe durch, um sicher zu sein, dass inzwischen auch keiner abgehauen war. Alle noch da! Brave Kinder.
Die Fahrt dauerte etwa 40 Minuten, und in Dortmund-Hörde erwartete uns schon unsere Lehrerin. Ich muss zugeben, dass wir ein wenig enttäuscht waren. Frau B. hatte uns doch versprochen, zur Begrüßung mit einem weißen Tuch zu winken. Von wegen! Kein Tuch, kein Winke-Winke! Diesen Fehler konnte sie dennoch wiedergutmachen, indem sie uns auf dem Weg zum Stahlwerk über Sehenswürdigkeiten Dortmunds erzählte, zum Beispiel über die „Schlanke Mathilde“.
Im Stahlwerk hatten wir eine Menge informatives erfahren. Auf die Einzelheiten möchte ich hier aber nicht eingehen. Na ja, um ehrlich zu sein, habe ich sie überhaupt nicht im Kopf behalten. Das, was mich tief beeindruckt hat, waren die riesigen Werkhallen, der Konverter und die unglaubliche Hitze, die vom darin zerschmolzenen Stahl ausging.
„So muss wohl die Hölle aussehen“, sagte Alexander B. leise neben mir und wurde auf einmal ganz still und nachdenklich. Wer weiß, warum? Er blieb an meiner Seite stehen und wir beide schauten noch eine Weile gebannt auf die feurige Glut und das Toben des flüssigen Stahls.
Nach der Hitze drinnen erwarteten uns die Kälte draußen; es regnete. Die meisten von uns hatten leider keinen Regenschutz dabei. Frau B. hatte mehr Glück – ihr Mann, der uns durch das Stahlwerk führte, konnte für sie einen Schirm auftreiben. Aber die Streitbaren sind nicht aus Zuckerwatte – sie werden es sicher auch überstehen.
Zum Schluss bekamen wir von unserer Lehrerin eine Hausaufgabe [mit der ich euch gerade bekannt mache], danach verabschiedete sie sich von uns.
Zurück nach Iserlohn brachten wir die dunklen Wolken und die Nässe mit. Nun, daran haben wir uns in Deutschland schon gewöhnt. Nicht das Wetter ist uns in unserer neuen Heimat wichtig, sondern das Klima.“
* „Die Streitbaren“ – so nannte man unsere Klasse (wir stritten/diskutierten wohl zu viel).
* * *
Ja, auch diese Geschichte bekam Anerkennung und ich durfte sie am nächsten Tag meinen MitstreiterInnen vortragen.
Eines Tages wurde ich auf eine Werbung der „Schule des Schreibens“ aufmerksam. Das, was ich im Prospekt las, weckte mein Interesse. Ich fragte die Lehrerin, was sie darüber denke, ob das etwas für mich wäre. Sie sagte, das Geld dafür könne ich mir sparen, und riet mir stattdessen, mich bei einer Schreibwerkstatt der VHS anzumelden. Ich folgte ihrem Rat. Zwar hatte ich nur einige Semester mitgemacht, aber die Erfahrung hat sich doch gelohnt, oder? Seitdem kann ich das Schreiben nicht mehr lassen.
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Myriade (Mittwoch, 04 Oktober 2023 17:36)
Lustig finde ich, dass ihr ausgerechnet ein Stahlwerk besichtigt habt. Diese Art Besichtigung würde ich eher in einem Land wie China oder Nordkorea erwarten. Bei Reisen zu Sovjetzeiten mussten Touristen auch überall Fabriken und ähnliches besichtigen bevor sie sich das ansehen konnten, was sie eigentlich interessierte :) :)
Rosa (Donnerstag, 05 Oktober 2023 13:17)
Hallo Myriade,
schön, dass du auch meinen zweiten / parallelen Blog besucht hast :-))
Ich denke, diese Besichtigung des Stahlwerks hatte keine besonderen Hintergründe. Wir waren damals auch in Museen und Co, im Kölner Dom, im Zeitungsverlag; an alles erinnere ich mich gar nicht mehr. Das mit dem Stahlwerk kam wohl deswegen zustande, weil dort der Ehemann der Lehrerin gearbeitet hatte.
Liebe Grüße
Rosa