Post mortem

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Wenn etwas Wichtiges ungesagt bleibt oder du sogar bewusst etwas vor einem nahestehenden Menschen verheimlicht hast, dann beschäftigt dich das auch nach seinem Tod. Jedenfalls geht es mir so in Bezug auf meine Eltern.

Meine Mutter starb 1971, sie war erst 58 Jahre alt. Ich war siebzehn und hätte ihr damals auch nichts erzählen können, einfach, weil ich noch nicht wusste, was mich in der Zukunft erwartete, wie sich mein Leben wandelte. Außerdem hatten wir über persönliche oder intime Dinge nicht gesprochen. Ich traute mich nie, ihr etwas über meine Ängste, Probleme und Sorgen zu erzählen, und sie hatte auch nicht danach gefragt. Alles, was ein Mädchen zu gegebener Zeit wissen sollte, erfuhr ich aus anderen Quellen – nicht von meiner Mutter. Heute kann ich besser verstehen, warum sie so war und was sie quälte.

 

Mein Vater hatte ein langes Leben, er wurde 91 Jahre alt und starb im April 2006. Auch mit ihm führte ich als Jugendliche keine persönlichen Gespräche. Als Erwachsene konnte ich mich mit ihm besser austauschen. Dennoch hielt ich von ihm meine Homosexualität geheim, obwohl ich schon seit 1997 mit meiner jetzigen Frau zusammenlebte. Aber die Stiefmutter war eingeweiht, mit ihr hatte ich diesbezüglich eine heftige Auseinandersetzung; letztlich akzeptierte sie meine Lebensart und lernte sogar meine Partnerin kennen. Hatte sie Vater davon erzählt? Eher nicht, denn sie wollte ihn, wie sie selbst sagte, nicht aufregen. Ich vermute aber, Vater ahnte es. Auf jeden Fall wusste er von mir selbst, dass ich mit meiner Freundin eine gemeinsame Wohnung teile, interessierte sich jedoch nie, aus welchem Grund. Nur einmal fragte er mich (es war kurz vor seinem Tod), ob ich noch immer „mit der Newesta“ (deutsch – Braut), wie er sich ausdrückte, zusammen lebe. Dabei lachte er. Ich staunte innerlich, lachte aber mit, als ich es ihm im gleichen Ton bestätigte. Ob es mehr als nur ein Scherz war?

 

Ich machte mir oft Gedanken, wie die Eltern auf das Anderssein ihrer Tochter reagiert hätten. In meinen Träumen nehmen sie es stets als die normalste Sache der Welt auf. Außergewöhnlich und erwähnenswert sind insbesondere zwei davon. Der erste liegt schon ein paar Jahre zurück und doch habe ich ihn noch klar in Erinnerung. In diesem Traum traf ich meine Mutter. Mir war klar – sie ist tot, gleichzeitig war ich sicher, dass sie wirklich gekommen ist, um sich mit mir auszusprechen. Nie zuvor hatte ich in der Realität ein so tiefes, warmes, schönes Gefühl der Nähe und Geborgenheit gespürt. Als ich aufwachte, hätte ich nicht wiedergeben können, was sie mir erzählte. Ich wusste nur, es war bewegend, und auch ich vertraute meiner Mutter alles an, was mir auf dem Herzen lag – alles. Das Wundervollste war – sie fühlte mit mir, sie verstand mich, nahm mich an, wie ich war. Dann tat sie etwas ganz Unerwartetes, was sie zu Lebzeiten nie über sich gebracht hatte. Sie schloss mich in ihre Arme. Wir weinten beide und in diesem Moment begriff ich, wie viel Sorgen sie sich um mich machte, wie sehr sie mich liebte, auch wenn sie ihre Liebe nie richtig zeigen konnte …

 

Auch die zweite, vor einigen Wochen geträumte Szene gibt mir zu denken.
Mein Vater und ich machen einen Spaziergang durch die Straßen Hemers (was wir in Wirklichkeit nie getan haben) und unterhalten uns. Ich soll einen Mann heiraten und Vater erzählt mir von ihm, sagt, dass es ein Guter ist und ich mit ihm ein sicheres Leben führen werde. Zunächst stimme ich ihm zu, streite nicht ab, dass es ein liebenswerter Mann ist. Dann aber schüttele ich den Kopf und sage: „Nein, Papa, wie gut dieser Mann auch sein mag, heiraten kann ich ihn nicht. Wie Ihr wisst, bin ich mit Dagmar zusammen und so etwas kann ich ihr nicht antun.“ Vater bleibt stehen, dreht sich zu mir um, wird nachdenklich. „Du hast recht“, sagt er schließlich, „das darfst du ihr wirklich nicht antun.“ Er sieht mich mit einem warmen Lächeln an und umarmt mich. „Dann wünsche ich dir viel Glück mit deiner Dagmar.“

 

Eine Verständigung post mortem, um es einmal so auszudrücken? Ist das möglich? …
Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass es in unserem Leben auch Übersinnliches gibt und dass der eine oder andere Traum einen tieferen Sinn hat. Vielleicht wollen solcherart Träume uns das klar vor Augen führen, was wir unterschwellig immer schon ahnten und fühlten, uns zeigen, wie es wäre, wenn? …
Oder sind sie doch nur das Produkt (m)eines Wunschdenkens, (m)einer Sehnsucht nach Harmonie? …

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Kommentare: 2
  • #1

    Birgit Malow (Sonntag, 16 Januar 2022 02:50)

    Liebe Rosa, dein ehrlicher Text berührt mich. Auch ich glaube an Träume post mortem. Meine Zwillingsschwester Sabine starb 2006 und ich träumte wenige Wochen später von ihr. Ich begegnete ihr auf der anderen Seite, sie war sehr liebevoll, aber sie fragte mich, ob ich ihr wirklich schon in den Tod folgen wolle. Ob ich nicht lieber noch eine Weile mit meinem Mann Jochen verbringen möchte. Ich bejahte. Auch sie umarmte mich und es war ein wohliges Gefühl. Als ich erwachte, war ich sehr glücklich und mit Sabine im Reinen.

  • #2

    Rosa (Sonntag, 16 Januar 2022 12:36)

    Liebe Birgit,

    was auch immer sie sind – für uns (und andere Menschen, die so etwas träumen) sind es schöne Erlebnisse, die ihre Bedeutung und positive Wirkung haben.
    Danke dir fürs Lesen und für deine Worte!

    Herzliche Grüße
    Rosa